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Die Capitana - Roman

Die Capitana - Roman

Titel: Die Capitana - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sie.
    Natürlich wollte er das nicht, erklärt Hipólito später auf dem Zimmer, aber als sie es mir vorschlug, was hätte ich sagen sollen. Er hätte sich eine Ausrede einfallen lassen können, oder hat er vielleicht doch auch für Ilse gekocht?, und spöttisch, er ist so höflich, so sympathisch.
    »Was ist los, Mika?«, fährt er sie auf Französisch an. »Ich bin nur deinem Rat gefolgt, mich nicht entmutigen zu lassen, und habe mir etwas ausgedacht, um dir, um uns eine Freude zu machen, und du reagierst so töricht, so unverständlich.«
    »Warum gibst du nicht zu, dass Ilse dir gefällt? Was ist dabei, ich kann das verstehen. Sie ist eine schöne Frau, dumm, aber schön.«
    Hipólito in geschliffenem, harten Französisch: Es ärgert ihn, dass sie so viel Zeit mit diesem Unsinn vertut, so viel Zeit und so viele Gedanken darauf verwendet, statt sich um die Geschichte Deutschlands, der Welt zu kümmern, die es viel nötiger hat. Mika tun die Worte auf Französisch ganz besonders weh, denn mit der französischen Sprache verbindet sie etwas anderes, auf Französisch waren ihre Liebe, ihre Körper, ihr Verlangen andere. Und in ebendiesem Französisch spricht sie noch einmal diese Worte, die sie selbst nicht glaubt, aber, blind getrieben, wie sie ist, nicht zurückhalten kann: Er soll ihr sagen, dass er sich für Ilse interessiert, es endlich zugeben. Sie interessiert ihn nicht mehr und nicht weniger als alle Menschen. Ich habe es satt, Mika. Und dann, Stille.
    Noch zwei oder drei matte Sätze, dann gibt sie es auf, denn Hipólito schweigt beharrlich, und zum ersten Mal seit langem, seit ihrem Streit damals in Patagonien, gehen sie schlafen, ohne sich noch einmal umarmt, bei der Hand genommen zu haben, noch nicht einmal eine gute Nacht haben sie sich gewünscht.
    Zwei oder drei Sätze, für die Mika sich ein paar Tage später sehr schämt, als sie am 15. Januar 1933 die Frankfurter Allee entlanggehen. Darum drückt sie Hipólitos Hand besonders fest, und er erwidert zärtlich ihre Geste, womit ihre unüberlegten Anschuldigungen vergessen sind.
    Die kommunistischen Reihen schreiten geschlossen über die Frankfurter Allee. Der Wind beißt auf der Haut, es herrscht eisige Kälte: fünfzehn Grad unter Null. Auf dem Wagnerplatz versammeln sie sich, um die Reden anzuhören, nur die Fahnenträger dürfen sich den Gräbern von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nähern. Die Sozialisten im Stadtrat des Bezirks Lichtenberg, wo sich der Friedhof befindet, haben eine Demonstration untersagt, »weil das die Besucher belästigen könnte«.
    Immer mehr Menschen drängen sich auf der Straße. Mikas Hand drückt die seine, sie ist sehr bewegt. Ein langer Schalmeienklang, und von allen Seiten schallt es zurück: Rotfront. Man mag das allzu dramatisch finden, aber sich dem zu entziehen ist unmöglich. Wenn sie so viele sind, die in die richtige Richtung gehen, können sie den Nationalsozialisten die Stirn bieten.
    Alle Fenster stehen offen, Gesang hallt durch die Frankfurter Allee. Hipólito beobachtet diese roten, wehenden Fahnen, diese jungen Leute, die im Gleichschritt marschieren, eine beeindruckte Macht geht von ihnen aus, wie können ihre Anführer so unheilvoll, so unfähig sein? Tausende sprechen mit einer Stimme: »Und höher und höher und höher wir steigen trotz Hass und Verbot.« Nur zu gern würde er das glauben.
    »Sieh mal«, sagt er zu Mika.
    Wenige Meter vor ihnen geht, laut singend, Jan Well.
    Hat er nicht bei dem Treffen der Gruppe Wedding verlauten lassen, dass man nicht zum Wagnerplatz gehen darf, dass man, wenn man an den Märschen der Partei teilnimmt, bevor sie nicht ihre Richtung geändert hat, dem Stalinismus in die Hand spielt? Aber dort ist er. Sehr merkwürdig.
    Ruvin Andrelevicius erfuhr von Etchebéhère persönlich, dass Mika russischer Abstammung war, ach was, sie war Russin, hatte russische Eltern? Von da an war ihm alles klar, ihre Ähnlichkeit mit Irina, die starke Ausstrahlung, die Inbrunst, mit der sie mitsang.
    An diesem Nachmittag auf der Frankfurter Allee, als Ruvin Andrelevicius sah, wie Mika Feldman ihre Faust reckte und Rotfront rief, überfiel ihn ein starkes Gefühl. Ein Gefühl, das sich mit Jan Wells Persönlichkeit überhaupt nicht vertrug.
    Jan ist schneidig, verführerisch, blitzgescheit, er kann sich für eine Idee ereifern, aber gefühlvoll wie jener junge Litauer Ruvin Andrelevicius ist er nicht, der vor fünf Jahren nach Moskau kam und dort das Paradies zu finden hoffte. Er fand es,

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