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Die Capitana - Roman

Die Capitana - Roman

Titel: Die Capitana - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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aber Ruvin gibt es nicht mehr. Soldat Nummer 32 ist es nach langer Ausbildungszeit und schmerzvollem Prozess gelungen, ihn zu begraben und als effizienter Agent des Russischen Geheimdiensts wiedergeboren zu werden. Ruvin ist jetzt Jan Well, ein Mann, der in Deutschland diese abtrünnigen Schweine, Verräterhunde, Feinde Stalins und des russischen Volks zusammengeführt und sie in zwei Gruppen aufgeteilt hat, und die wird er nun so lange spalten und schwächen, bis nichts mehr von ihnen übrig ist. Das ist sein Auftrag. Um das zu erreichen, gibt Jan sich als einer von ihnen aus, als ein Verräter wie Landau, Andreu Nin, Sascha Müller oder Alfred Rosmer. Wie sie – das ist sein Vorteil – sucht er zur Kommunistischen Partei und zu Trotzki je nach Bedarf Nähe oder geht auf Abstand.
    Jan Well ist es eigentlich verwehrt, zum Wagnerplatz zu gehen, sosehr es ihn auch zu diesen großen Demonstrationen zieht, auf denen Ruvin damals Feuer fing. Überzeugung und Gehorsam sind oberstes Gebot, persönliche Wünsche nachrangig, würde sein Ausbilder sagen.
    Auf dem Treffen der Gruppe Wedding hat er noch gesagt, man darf die Marschkolonnen der KPD nicht noch mächtiger werden lassen, ehe die Partei nicht ihre Richtung geändert hat. Aber Jan Well kann doch auch seine Einstellung ändern, redet er sich ein, das ist Teil seiner Persönlichkeit, schon mehrmals hat er das in seinen drei Jahren in Deutschland getan, er ist nicht vernagelt, sondern für andere Positionen offen, wie er Etchebéhère auf dem Weg zum Wagnerplatz bekennt: Hippolyte hat ihn auf der Versammlung am Mittwoch zu der Überzeugung gebracht, dass er mitgehen sollte.
    Mika scheint nicht mitgehört zu haben, er hat sie schon des Öfteren dabei beobachtet, wie sie Gleichgültigkeit vortäuscht, damit ihrem Mann nicht auffällt, wie sie in seiner Gegenwart erbebt. Während er Etchebéhère seine Gründe darlegt, reckt sie, angesteckt von der Begeisterung der anderen Genossen, ihre Faust und schreit aus vollem Hals »Rotfront«.
    »Rotfront«, erwidert Ruvin glühend.
    Zum Glück gelingt es Jan – nicht umsonst hat er es so weit gebracht –, seinen Ausrutscher einzufangen, mit der Bemerkung: Du hattest recht, Hippolyte, wir sind Kommunisten, Rotfront!, über Komintern und Stalin hinaus, wir sind Kommunisten, Rotfront!
    Aber Vorsicht, Jan, warnt er sich selbst, diese russisch-südamerikanische Frau hat das Zeug dazu, unter den vielen Schichten Disziplin Ruvin aufzuspüren.
    Er hat einen wichtigen Auftrag zu erledigen und darf sein Gesicht nicht zeigen. Ist das klar?, fragt der Ex-Soldat Nummer 32 sich selbst. Ja, ist es, antwortet er sich als Jan Well, sich seiner Verantwortung für den Verlauf der Geschichte bewusst.
    Es hätte uns misstrauisch stimmen können, dass wir ihn an diesem Nachmittag auf der großen Kundgebung der KPD antrafen, obwohl auch wir und noch unzählige andere Genossen dort waren.
    Dass er auf dem Wagnerplatz auflief, überraschte Hipólito mehr als mich, ich glaubte ihm sowieso nichts und schon gar nicht die abwegige Ausrede, die er uns gab: dass wir ihn überzeugt hätten.
    Trotzdem, auf dem Wagnerplatz störte mich sein Auftreten weniger als sonst, die Art und Weise, wie er die Faust reckte und »Rotfront« rief, verlieh Jan Well eine Überzeugtheit, eine Echtheit, die ich zuvor noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Auch Hipólito fiel das auf.
    Wir nahmen uns vor, Näheres über den Genossen Well herauszufinden, aber wenige Tage später kündigten sich die Ereignisse am Bülowplatz an, und damit wurde alles andere unwichtig. Auf dem Treffen der Gruppe Wedding gab es nur noch ein Thema, was passieren würde, wenn die Nazis ihr Ziel erreichen würden.

19. Kapitel
Berlin, 1933
    Als sie am Dienstag die Titelseiten der Zeitungen lasen, konnten sie es nicht glauben: Am Sonntag, dem 22. Januar, würden sich die Nazis auf dem Bülowplatz vor dem Karl-Liebknecht-Haus versammeln. Unter dem Vorwand, auf dem nahe gelegenen St.-Nikolai-Friedhof Horst Wessel, den Gründer der SA, ehren zu wollen, hatten sie die Genehmigung zu der Versammlung eingeholt. Tausende Nazis würden mit ihren Fahnen, ihren Gesängen den Bülowplatz beschmutzen.
    »Tod der Kommune«, würden sie vor dem Sitz der Kommunistischen Partei skandieren. »Wenn das Judenblut vom Messer spritzt«, würden sie im Scheunenviertel, in dem vor allem Juden lebten, grölen.
    In den Fabriken, in ihrer Schule, auf der Straße, auf den Plätzen und in den Zügen, überall war von der Demonstration

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