Die Capitana - Roman
der Nazis auf dem Bülowplatz die Rede. Hipólito und Mika kauften alle Zeitungen, und die Erkenntnisse aus Büchern, Erlebnissen und Gedanken notierten sie in ihr in blaues Papier eingeschlagenes Heft.
Eine unerhörte Provokation, nicht nur der Kommunisten, der gesamten Arbeiterklasse. Lies, Mika, was die liberale Presse schreibt, das Berliner Tageblatt rät der Polizei, sich zu besinnen und die Genehmigung zurückzunehmen, der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund warnt das Innenministerium vor den verheerenden Konsequenzen, sie werden sich dem nicht verschließen, Hippo, und die Versammlung doch noch verbieten, wenn selbst die Deutsche Allgemeine Zeitung, das Sprachrohr der Schwerindustrie, erklärt, dass die schnellen Entscheidungen nicht die besten sind und Deutschland in seiner derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Situation vor allem Ruhe braucht. Dass es am Bülowplatz Opfer geben wird – davon muss man ausgehen –, wird nicht zur Beruhigung der Lage beitragen, schreiben sie.
Und ein Genosse aus der Schule: Sie wollen uns aus der Reserve locken, um die Partei verbieten zu können. Herr Schwartz, besorgt: Das kann schlimm ausgehen. Und der Mann, mit dem sie öfter im Café reden: Schleicher wird mit dem Innenminister, Dr. Bracht, sprechen und sich persönlich der Sache annehmen, man muss hoffen, dass sie die Versammlung verbieten, sie müssen lernen, solche Beschlüsse mit Augenmaß zu treffen.
Die Rote Fahne , das Organ der KPD , ruft die Berliner Arbeiter auf, Protestbriefe an die Regierung zu schicken und sie so zum Umkehren zu zwingen. Protestbriefe? Mehr fällt ihnen nicht ein? Die SPD bläst immer ins selbe Horn und erklärt, dass diese Provokation nur möglich ist, weil die KPD die Arbeiterklasse gespalten hat, was für Idioten sind doch diese sozialistischen Arbeiter, ganz diszipliniert werden sie sich von der Demonstration am Sonntag fernhalten, erklären sie, ihnen liegt mehr daran, die Kommunisten dumm dastehen zu lassen als den Nazismus zu bekämpfen, dabei ist die KPD es längst leid, auf die Sozialdemokraten als den Hauptfeind zu zeigen. Die einen wie die anderen verhalten sich unverantwortlich, die Nazis werden uns eine Nase drehen, Hippo.
»Aber welche Richtung genau schlägt die Partei denn vor?«, fragt Hipólito verzweifelt.
»Sie werden dieses Wagnis nicht eingehen«, behauptet ein Mann aus der Gruppe, die sich am Tag zuvor spontan auf dem Bülowplatz gebildet hat, »ich setze darauf, dass sie im letzten Moment die Demonstration verbieten werden.«
»Die Nazis werden aufmarschieren, da kannst du dir sicher sein. Und es wird Blut fließen«, prophezeit eine ältere Frau.
»Und was wollen wir machen? Das zulassen?«
Das Heft zu entschlüsseln, das ihr in Deutschland geschrieben habt, hat mir große Mühe gemacht, mehr als deine anderen Aufzeichnungen. Seltsame Abkürzungen für Parteien oder Gruppierungen, lose Sätze auf Deutsch, eingeflochten in den spanischen Text, Ausschnitte aus verschiedenen deutschen Zeitungen vom 18., 19. und 20. Januar 1933, Hipólitos enge Handschrift, im Wechsel mit deiner geneigten Schrift, hastige, über die Zeilen hinaus geschriebene Wörter, man kann gar nicht so schnell schreiben, wie die Ereignisse sich überschlagen, Hitler vor der Tür, und der Nationalsozialismus euch auf den Fersen.
Während ich diese Seiten wieder und wieder las, begriff ich, was das alles bedeutet hat, ich konnte die Angst spüren, die Faust, die nicht in die Luft gereckt war, sondern zusammengekrampft vor Ohmacht in der Hosentasche steckte. Ich entzifferte die Schrift, die komplizierten Kürzel und ließ die Zeitungsausschnitte übersetzen, und der Bülowplatz dieses Hefts erwachte zu Leben, bedrohliche Wolken brauten sich über ihm zusammen, denn dort, das sagten die Rechte, die liberale Presse, die Leute auf der Straße, die Genossen in der Schule, würde Blut fließen, dort würde sich der Aufstieg der Nazis zur Macht entscheiden, und die kommunistischen und sozialistischen Führer waren von ihrem gegenseitigen Hass so benebelt, dass sie das nicht wahrnahmen.
Sie glaubten bis zum letzten Moment, dass irgendwer sie aufhalten würde, aber nein, der Präsident traf sich mit dem Kanzler, mit dem Polizeichef, und beide überzeugten ihn, dass es keinen Grund gibt, die Demonstration zu untersagen, dass der Staat über den Parteien steht und seine Autorität unter Beweis stellen muss.
Und so marschierten am Sonntag, dem 22. Januar, die Nazis vor dem Karl-Liebknecht-Haus
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