Die Capitana - Roman
das sein.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte aus der Tür, Hipólito eilte ihr nach in den Flur: Sie sollen Deutschland verlassen, sie müssen gehen, ob sie ihn versteht, sie sind Juden, Ju-den, Abschaum für die Nazis. Ungehobelter Flegel, herrschte Ilse ihn an und floh in ihr Zimmer. Er hörte sie weinen, aber ihm fiel nichts Besseres ein, als zurück in sein Zimmer zu gehen.
Das Klavier spielt und spielt. Der Mantel, die Handschuhe, der Hof, die Straße. Er wird draußen auf Mika warten.
Vor der Haustür fällt ihn aus einem anderen Fester das Horst-Wessel-Lied an, eine Frau singt es. Hipólito ergreift nicht die Flucht, er stellt sich hin und hört es sich Wort für Wort an, als könnte er nur so etwas verstehen, das sich ihm ansonsten entzieht. Er versteht alles – er hat in wenigen Monaten sehr gut Deutsch gelernt –, und es tut ihm im ganzen Körper weh.
Er geht ins Haus zurück, die Treppe hoch, in die Wohnung.
»Ilse, bitte, mach auf, ich möchte mit dir reden.«
Sie öffnet vorsichtig die Tür, einen Spalt nur.
Hipólito bittet sie um Verzeihung, er bereut ehrlich alles, was er gesagt hat, aber sie soll gehen, bitte, dabei bleibt er, so schnell wie möglich, auch sie werden aus Deutschland fortgehen.
Ilse, unter Tränen: bitte nicht, wann denn, er darf sie nicht allein lassen, darum also hat er sie so schlecht behandelt, jetzt versteht sie, auch ihr geht es so, auch sie …
Als wären alle Dämme gebrochen, lässt sie unter Schluchzen und Schluckauf die Geschichte einer Liebe heraus, die nicht sein darf, und Hipólito scheut sich, sie ihr auszureden. Wozu? Soll sie es glauben, wenn es ihr guttut.
Natürlich mag er sie, darum drängt er sie doch, dass sie ihren Mann überredet zu fliehen, er wird ihnen helfen. Von Hamburg läuft ein Schiff nach Argentinien aus, er gibt ihnen Briefe für seine Freunde mit, die werden ihnen helfen, eine Wohnung und Arbeit zu finden.
Ilse hat aufgehört zu weinen: Meint er, sie könnten ihre Reparaturschneiderei für Leder in Argentinien betreiben? Trägt man dort auch Ledermäntel? Ja, sagt Hipólito und setzt sich neben sie aufs Sofa, sie werden es dort gut haben. Er nimmt Ilses Hand und erzählt ihr von seinem Vater und den Telefonleitungen, die er verlegt hat, und von dem Süßwarengeschäft von Mikas Eltern und noch andere Geschichten aus diesem so fernen Land, aus dem er, so scheint es ihm, vor Jahrhunderten weggegangen ist.
»Und du, Hippolyte, wirst du zurück nach Argentinien gehen?«
»Ja, natürlich, eines Tages.«
»Und dann treffen wir uns dort«, sagt Ilse.
Keiner von beiden glaubt das, aber sie wendet ihm, wie um einen Pakt zu besiegeln, ihren Mund zu, und er gibt ihr einen weichen Kuss.
So weich, so kurz, so leicht, dass man daran zweifeln konnte, ob es ihn wirklich gab, und doch gab er Ilse den Anstoß, dieses gewaltige Unternehmen in Angriff zu nehmen und alles zurückzulassen, ihre Hinterhofwohnung in der Wadzeckstraße 33, die Brücken über die Spree, den Wochenmarkt, ihre persönlichen Sachen, ihr geliebtes Berlin, ihre Sprache, um auf dieses Schiff zu steigen, das sie im März 1934 nach Buenos Aires bringen sollte.
Weder ihr Ehemann Karl noch ihr Sohn Carlos erfuhren jemals davon, nur ihrer Tochter Rachel erzählte Ilse, als sie schon eine alte Dame und Witwe war, von jenem Kuss von Hippolyte, über den die Zeit eine Firnis aus Leidenschaft und Zärtlichkeit gelegt hatte. »Ich war überrascht, aber ich habe meiner Mutter diese Untreue nicht übel genommen«, sagte Rachel, »schließlich hat diese Träumerei ihnen geholfen, rechtzeitig aus Deutschland zu fliehen. Und nach Argentinien zu kommen, wo wir geboren wurden.«
Auch Hipólito wird dir nicht erzählt haben, was an jenem Nachmittag zwischen ihm und Ilse geschehen ist, wahrscheinlich erschien ihm das nicht nötig, er bat dich nur, den Schwartz zu helfen. Also hast du deiner Freundin Salvadora Medina Onrubia de Botana einen Brief geschrieben.
Bei unserer Abreise regnete es in Berlin. Und wir waren sehr traurig. So viel Hoffnung, und alles in Scherben. Hippo musste hart zu den Schwartz sein, damit sie uns nicht zum Bahnhof begleiteten: Wir mögen Abschiede nicht, bitte, Ilse, dräng nicht darauf. Ihre übertriebene Szene griff uns alle an. Ihr Mann hielt sie an den Armen zurück, und ich schloss die Tür. Hippo sagte, sie hat schon im Voraus ihren eigenen Abschied aus Berlin beweint, ich spürte, dass da noch mehr war, aber behielt es für mich.
Katja reiste mit uns nach
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