Die Champagnerkönigin
dachte Clara, während sie an die dunkle Zimmerdecke starrte.
»Kannst du auch nicht schlafen?«, flüsterte Josefine neben ihr. »Einerseits bin ich todmüde, auf der anderen Seite hat mich alles unglaublich aufgewühlt.«
»Mir geht’s genauso«, sagte Clara und drehte sich zu Jo um. »Bist du bei Isabelles Anblick auch so erschrocken?« Wie eine alte Frau sah die Freundin aus. Isabelle hatte ihre Haare zu einem Zopf geflochten, der matt und schmutzig ihren Rücken hinabhing. Ob er sich wohl je wieder öffnen ließ? Oder waren die Haare so verfilzt, dass nur abschneiden half? Der graue Kittel, der so unangenehm nach Schweiß roch. Und darunter der spitze Bauch …
»Isabelle sieht elender aus als die Fabrikarbeiterinnen, die für ihren Vater zwölf Stunden am Tag an den Nähmaschinen hocken. Im ersten Moment habe ich sie fast nicht wiedererkannt. Hätte Madame Guenin uns nicht vorbereitet … Und wie sie einen mit ihren leblosen Augen anschaut – jetzt weiß ich, was Madame Guenin meinte, als sie sagte, sie wisse nie, ob Isabelle überhaupt zuhört. Die Arme tut mir so leid! Was meinst du, wie weit ist die Schwangerschaft schon fortgeschritten?«
»Ich schätze, sie ist im vierten oder fünften Monat«, antwortete Clara nach kurzem Überlegen. »Aber sie kann auch schon weiter sein. So mager, wie sie ist, wirkt der Bauch übergroß.«
Josefine warf sich auf die Seite. »Ein Kind, gerade jetzt –«
»Ein Segen ist das!«, unterbrach Clara sie heftig. »Kinder sind immer ein Segen. Es ist das Letzte, was ihr noch von Leon bleibt.«
»Aber du hast Isabelle doch gesehen! Sie ist nicht einmal in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern, geschweige denn um ihr Geschäft. Wie sollte sie da Sorge für solch ein kleines Würmchen tragen?«
»Das Kind kommt ja nicht schon morgen«, erwiderte Clara. »Ich finde, für den Moment sollten wir zufrieden sein, immerhin hat Isabelle ihr Bett verlassen und ist mit uns hinaus auf die Terrasse gegangen – das ist mehr, als Madame Guenin in den letzten Monaten erreicht hat.« Wegen der Dunkelheit ahnte sie Josefines skeptische Miene mehr, als dass sie sie sah, und sagte: »Wir müssen geduldig sein. Isabelle hat einen schrecklichen Verlust erlitten. Einerseits will sie nicht wahrhaben, was geschehen ist, gleichzeitig frisst die Trauer sie auf. Und weil das alles so schwer zu ertragen ist, verharrt sie in einer Art Schockstarre. Du hast doch gehört, dass sie sagte, sie könne sich zu nichts aufraffen.«
»Eine Schockstarre, aha. Hast du als Ehefrau eines Herrn Doktor jetzt auch schon Kenntnisse über die menschliche Seele erworben?«, fragte Josefine mit ironischem Unterton.
»Dafür braucht es nur ein bisschen Einfühlungsvermögen, mehr nicht. Versetz dich doch mal in Isabelles Lage – nach solch einer Tragödie hättest du bestimmt auch nicht alles sofort wieder im Griff. Wir müssen versuchen, sie nach und nach wieder ins Leben zurückzuführen.«
Josefine seufzte. »Aber wir haben dafür nicht unendlich viel Zeit! In Berlin wartet mein eigenes Geschäft auf mich, und dein Gerhard wird dir auch die Hölle heißmachen, wenn du länger als nötig fortbleibst. Deshalb würde ich dafür plädieren, dass wir gleich morgen früh einen Plan machen.« Als hätten ihr ihre Worte neuen Schwung verliehen, stand Josefine auf und ging zum Fenster, um es zu öffnen. Sofort erfüllte das Zirpen der Nachtinsekten das Schlafzimmer.
»Du und deine Pläne, das ist mal wieder typisch!« Clara atmete tief die süße Luft ein, die durch das Fenster hereinströmte. Es roch nach Zitronen und Orangen und nach Lavendel. Obwohl alles rings um sie herum so traurig war, bereitete der Duft ihr ein innerliches Glücksgefühl, wie sie lange keins verspürt hatte. Sie sagte sanft, aber bestimmt: »Isabelle hat heute zum ersten Mal seit langer Zeit ihr Schneckenhaus verlassen, mit einem geschäftsmäßigen Plan würden wir sie nur verschrecken.« Carla setzte sich auf und wies mit dem Kinn in Richtung des Fensters. »Riechst du die Süße, die hier in der Luft liegt? Diese Süße muss Isabelle wieder wahrnehmen. Sie muss erfahren, dass das Leben auch ohne Leon lebenswert sein kann. Sie muss das Leben wieder lieben lernen. Und dafür gibt es keinen Plan. Eine solche Heimkehr ins Leben folgt nun einmal keinem Diktat.«
24. Kapitel
Am Morgen war Clara trotz der wenigen Stunden Schlaf schon früh auf den Beinen. Der Schrei des Hahns, das Zirpen der Grillen, die Rufe der Arbeiter, die aus den
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