Die Champagnerkönigin
Gewissheit? Vor der Erkenntnis, dass es doch kein böser Traum war? Isabelles Seufzen wurde vom leisen Rauschen der Trauerweiden aufgenommen und davongetragen.
Noch war kein Grabstein gesetzt worden, nur ein hölzernes Kreuz zeigte an, wer hier lag. Leon Feininger, ihre große Liebe. Der Vater ihres Kindes. Unwillkürlich strich sie sich mit der rechten Hand über den Bauch. Über die kniehohe Friedhofsmauer hinweg konnte sie auf die Feininger-Weinberge schauen, erkannte Isabelle. Der Anblick war tröstend. Wie gut, dass sie hergekommen war! Für einen langen Moment stand sie regungslos da, während sich tief in ihrem Inneren ein Knoten nach dem anderen löste. Leon war tot. Er hatte seine Träume mit ins Grab genommen. Aber ihr Leben ging weiter. Sie würde für zwei träumen, oder besser gesagt, für drei. Lächelnd strich sie sich erneut über den Bauch.
Erde, mit weißen Kalksprenkeln durchsetzt, bedeckte das Grab, hier und da linsten ein paar Grashalme hervor, dazu Disteln, Löwenzahn und anderes Kraut. Daran, eine Schaufel oder Hacke mitzunehmen, hatte sie nicht gedacht, und so begann Isabelle, mit bloßen Händen das Unkraut aus der Erde zu rupfen. In einer Vase vor dem Kreuz stand eine verblühte rosafarbene Rose. Hatte Micheline sie gebracht, als sie ihren Bruder Albert, der am anderen Ende des Friedhofs lag, besuchte? Kein einziges Mal hatte sie Micheline für ihre Mühen gedankt. Röte stieg Isabelle ins Gesicht, als sie die verblühte Rose aus der Vase nahm und durch drei Lilien, die sie im Garten abgeschnitten hatte, ersetzte. Von jetzt an würde sie selbst für Blumenschmuck sorgen. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die kalkhaltige Erde streichelte.
»Hallo, Leon, ich bin’s. Ich habe dir einiges zu erzählen …«
29. Kapitel
»Großer Gott, Schöpfer und Vater der Welt, heute sind wir zusammengekommen, um dich zu preisen, um dich zu loben für alles, was du für uns tust. Wir wollen dir danken für alles Segensreiche, das du uns hast angedeihen lassen. Und wir wollen dich darum bitten, dass alles, was bereits wächst, bis zur Ernte gut heranreift.«
Isabelle schluckte den bitteren Geschmack, der sich während der Worte des Pfarrers in ihrem Mund ausbreitete, herunter. Gott loben für all das Gute, das er tat? Das konnte sie schon lange nicht mehr. Trotzdem saß sie hier, in der Kirche von Hautvillers, die bis auf den letzten Platz besetzt war. Noch immer fiel es ihr schwer, sich unter die Leute zu mischen, viel lieber spazierte sie allmorgendlich durch ihre Weinberge, wo sie mit sich allein war. Aber dem Erntebittgottesdienst fernzubleiben hatte sie sich einfach nicht getraut, denn dieser Gottesdienst war in den Augen der Champenois mindestens so wichtig wie der Weihnachts- oder der Ostergottesdienst.
Seltsam, dass alle Kirchen dieser Welt denselben Geruch besaßen, dachte sie, während die Gemeinde ein Lied anstimmte. Ob in Berlin, in der Pfalz oder hier – es roch nach Weihrauch und Mottenkugeln, nach schlecht gelüfteten Kleidern, Schweiß und Sünde.
Da Isabelle das Lied nicht kannte, bewegte sie lediglich die Lippen und tat so, als würde sie singen. Währenddessen ließ sie ihren Blick schweifen. Der Altar war mit Weinranken und Weintrauben geschmückt, die aus einem riesigen silbernen Füllhorn auf die Marmorplatte flossen.
Es war das erste Mal seit Josefines und Claras tränenreichem Abschied vor drei Tagen, dass sie aus dem Haus gegangen war. Ihre Angst, sich dabei wieder so allein und verlassen zu fühlen wie in den Monaten vor dem Besuch der Freundinnen, erwies sich rasch als unbegründet: So kurz vor der Ernte, der wichtigsten Jahreszeit in der Champagne, rückten die Menschen noch enger zusammen. Und so hatten Claude Bertrand, Micheline und Marie Guenin darauf bestanden, dass sie zusammen zur Kirche spazierten. Gemeinsam saßen sie nun auch in einer der mittleren Reihen. Neben ihnen hockte außerdem Gustave Grosse, der vor einer Woche zurückgekehrt war. »Ich habe doch gesagt, dass ich rechtzeitig zur Ernte wieder da bin«, hatte er schulterzuckend gesagt. Isabelle hatte nicht gewusst, ob sie den Mann ohrfeigen oder umarmen sollte. Sogleich hatte sie ihm eine Standpauke darüber gehalten, dass sich seine Arbeitsmoral künftig ändern müsse, dass sie viel vorhatten in diesem Herbst, dass sie gemeinsam an einem Strang ziehen mussten, um erfolgreich zu werden, und so weiter. Grosse hatte sich alles angehört und dann nach einem Vorschuss auf seinen Lohn
Weitere Kostenlose Bücher