Die Champagnerkönigin
Schritt mehr wie Alice im Wunderland. Sie zuckte leicht zusammen, als direkt neben ihr ein leicht schabendes Geräusch ertönte, das sie nicht einordnen konnte. Es war ein Mann mittleren Alters, der mit einem kleinen Messer etwas in eine der Stufen einritzte, die zum Chorgestühl führten. Einen Namen vielleicht? Erst jetzt sah Isabelle, dass sich auf allen Steinsimsen, Stufen und Mauern Abertausende von Kritzeleien befanden – Buchstaben, Namen, Kringel, fremdartige Symbole … Wollten die Besucher dadurch mit dem Bauwerk eins werden, ein Teil davon sein, etwas von sich zurücklassen? Einen Moment lang überlegte Isabelle, ob auch sie … Eine Nagelfeile hatte sie immerhin dabei. Doch dann entschied sie sich dagegen und zündete lieber an einem der vielen Kerzenaltare eine Kerze an. Auf Knien und mit geschlossenen Augen betete sie.
Lieber Gott, ich danke dir für dieses Märchen, das hier in Reims bereits begonnen hat …
Als Isabelle die Kathedrale eine gute Stunde später wieder verließ, verspürte sie nichts als Frieden und Zuversicht. Das Weingut war für Leon und sie die einzigartige Chance, zu einem guten Gespann zusammenzuwachsen. Vielleicht war ihm die Größe ihres Unterfangens bisher noch nicht ganz bewusst, aber spätestens nach ihrer Ankunft auf dem Gut würde er verstehen, dass die Zeit jetzt reif war für etwas anderes als das Radfahren.
Der Champagnerladen von zuvor kam wieder in Sicht, und Isabelle verlangsamte ihren Schritt. Links und rechts von der Tür standen nun zwei hüfthohe Bodenvasen, die vorher nicht da gewesen waren. Sie waren mit weißen Lilien gefüllt und wirkten sehr elegant. Im Geschäft selbst brannten mehrere Kronleuchter, die die elegante Ausstrahlung noch verstärkten.
Zögerlich blieb Isabelle ein paar Meter vom Eingang entfernt stehen. Als angehende Champagnerwinzerin interessierte sie das Angebot des Ladens natürlich sehr, und dennoch traute sie sich nicht, einzutreten. Was für ein Blödsinn! Resolut drückte sie die Klinke nach unten und trat ein.
Der Besitzer, ein attraktiver braunhaariger Herr, war mit einem anderen Kunden beschäftigt, worüber Isabelle fast erleichtert war. Er nickte ihr lächelnd zu und lud sie mit einem kleinen Wink ein, sich umzuschauen.
Isabelle lächelte verhalten zurück, dann schaute sie sich um. Das Ladenlokal war von innen genauso schön und ungewöhnlich, wie es von außen gewirkt hatte: Auf dem polierten Granitboden lag ein prachtvoller Aubussonteppich, statt Bildern hingen verschieden große Spiegel mit opulenten Goldrahmen an den cremeweißen Wänden. Isabelle warf ihrem Spiegelbild einen skeptischen Blick zu, als wollte sie fragen: Was hast du hier eigentlich verloren? Als sie auf das Weinregal zuging, das die ganze linke Wand einnahm, verschluckte der Teppich ihre Schritte. Isabelle fand den Anblick der Hunderte von Flaschen sehr beeindruckend, wenn nicht sogar ein wenig einschüchternd.
»Für einen Vater ist es immer schmerzlich, die Tochter gehen zu lassen«, hörte sie den Besitzer sagen. »Auch wenn man sie in den besten Händen weiß und der zukünftige Schwiegersohn eine so angesehene Persönlichkeit ist wie …« Während er sprach, zog der Mann eine Flasche Champagner aus einem Flaschenkühler und öffnete sie mit geübten Griffen. Zwei langstielige Gläser standen ebenfalls schon auf der Theke parat, beide schenkte er zur Hälfte voll. Er hatte schöne Hände, erkannte Isabelle unter niedergeschlagenen Lidern. Kraftvolle und zugleich feinfühlige Hände wie ein Pianospieler. Jede seiner Handbewegungen strahlte so viel Selbstsicherheit aus, so viel Würde, als vollzöge er eine sakrale Handlung. Gebannt vermochte Isabelle ihren Blick kaum abzuwenden.
»Ist es nicht tröstlich zu wissen, dass Champagner uns zu jeder Zeit guten Beistand leisten kann? Freud und Leid – sie sind wie Geschwister! Wer weiß das besser als wir Champenois mit unserer wechselvollen Geschichte? So viele Kriege, so viel Unfrieden, und dazwischen das schönste savoir vivre …« Der Mann hinter dem Tresen machte eine ebenso lässige wie elegante Handbewegung. »Lassen wir die große Politik außen vor. Ich möchte Ihnen viel lieber eine kleine, persönliche Geschichte erzählen. Als meine liebe Freundin Louise Pommery im Jahr 1 8 7 9 ihre Tochter mit dem Comte Guy de Polignac verheiratete, schenkte sie naturgemäß den besten Champagner aus, den ihr Haus zu jener Zeit zu bieten hatte: Es war der 1874 er Pommery. Und was soll ich Ihnen
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