Die Champagnerkönigin
ihr besonders angetan.
» S’il vous plaît ?« Einladend hielt die Verkäuferin ihr den Tiegel hin.
Wie ausgehungert tunkte Isabelle ihren rechten Zeigefinger in den Tiegel, danach tupfte sie die Farbe auf ihre Lippen. Schon so lange hatte sie kein Parfüm mehr aufgelegt, keine Schminke mehr in der Hand gehabt! Aber die »Nothzeit« ist vorüber, ging es ihr erneut durch den Kopf, und sie lächelte über das Wortspiel.
Die Creme fühlte sich zart und weich an, wie ein Kuss von Leon. Als sie in den Handspiegel schaute, den die Verkäuferin ihr hinhielt, musste sie unwillkürlich lächeln – sie wirkte plötzlich so französisch wie die eleganten Damen, die sie gestern im Restaurant gesehen hatte.
Hochzufrieden mit ihrem Kauf, dafür mit etlichen Francs weniger in der Tasche, trat Isabelle kurze Zeit später aus dem Laden. Immer wieder hielt sie vor einem Schaufenster an, um dessen Auslage und ihr Spiegelbild mit den kupferroten Lippen zu bewundern. Sie fühlte sich so gut wie lange nicht mehr! Lächelnd blieb sie bei einem Straßenhändler stehen, der in seinem Bauchladen Ansichtskarten der Stadt feilbot. Die Kathedrale, das Rathaus, und da – die königlich wirkende Apotheke, die sie gestern in natura bewundert hatte! Sie kaufte die Karte, um Clara in Berlin eine kleine Freude zu machen, dafür reichte ihr Geld noch allemal. Die Freundin würde vielleicht Augen machen, wenn sie plötzlich eine Ansichtskarte aus Frankreich bekäme …
Während Isabelle eine lange Straße entlanglief, in deren Mitte die Straßenbahn fuhr, verstand sie plötzlich, was neben den Geschäften und den überaus zuvorkommenden Menschen den Zauber der Stadt ausmachte: Es war der weiße Sandstein, der in fast allen Gebäuden verbaut worden war. Er reflektierte das Sonnenlicht auf fast überirdisch schöne Weise. Der Gedanke, dass diese herrliche Stadt nur zwanzig Kilometer von ihrem zukünftigen Zuhause entfernt lag und sie öfter hierherkommen würde, erfüllte sie mit großem Glück.
Kathedrale von Reims, Holzstich von 1876
Die Cathédrale Notre-Dame war schon in Sichtweite, als Isabelle an einem Laden vorbeikam, in dessen Schaufenster nichts stand außer einer leeren Champagnerflasche und zwei Gläsern. Das schlichte Arrangement war auf einem Stoff drapiert, der wie geschmolzenes Gold aussah, und wirkte nicht nur äußerst elegant, sondern fast … arrogant. Als wollte derjenige, der es ersonnen hatte, damit sagen: »Mehr bedarf es nicht, oder?« Die kleine Szene strahlte außerdem eine Intimität aus, die sich Isabelle nicht erklären konnte. Es waren doch nur eine leere Flasche und zwei Gläser, von denen eins auch noch lag, als hätte es jemand im Überschwang seiner Gefühle umgestoßen. Ein Tischgast an einer eleganten Tafel. Ein Liebhaber bei der Umarmung seiner Angebeteten …
Als wäre sie dabei ertappt worden, heimlich durch ein Schlüsselloch zu schauen, wandte Isabelle ihren Blick vom Schaufenster ab und nach oben. »Champagne & Champagne« stand in schwarzen Lettern auf dem cremefarbenen Schild, das über dem Fenster prangte. Nicht »Champagner und Wein« oder »Champagner und andere Spirituosen«. Was hatte sich der Besitzer bei diesem Namen nur gedacht? Wie magisch angezogen, drückte Isabelle ihre Nase an die Fensterscheibe, als im nächsten Moment von innen ein Männergesicht auftauchte. Erschrocken wich sie zurück, dann ging sie eilig davon.
Mannsgroße Figuren, kleine Figuren, Engel, Fabelwesen, Madonnen, die Jungfrau Maria … Isabelle konnte ihren Blick nicht abwenden von der weltberühmten Cathédrale Notre-Dame. In ihrem Reiseführer stand, dass das jahrhundertealte Bauwerk über hundertfünfzig Meter lang war und man an den Fassaden über 2300 Figuren gezählt hatte. Besonders entzückte Isabelle der »Lächelnde Engel«, den sie links neben dem Westportal entdeckte. Bei so viel Schönheit hatte sie fast ein wenig Angst einzutreten.
Als sie es schließlich dennoch wagte, spürte sie einen Kloß im Hals vor lauter Ergriffenheit. Noch mehr Schönheit … Isabelle fand es tröstlich, dass es auch in dieser Kirche roch wie in allen andern: nach Staub, Kerzenwachs, nach alten Steinen und Weihrauch, nach Sünde und Vergebung.
Leise Orgelklänge vermengten sich mit dem dumpfen Klopfen der Steinmetze, die an der Restaurierung der Außenfassade arbeiteten. Das Sonnenlicht, das durch die Farbglasfenster fiel, brach sich in Tausenden von Prismen, wie in einem Kaleidoskop. Isabelle fühlte sich mit jedem
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