Die Chancellor
Auch die Herren Letourneur haben einen Teil der
Nacht geschlafen, und noch einmal haben wir uns die
Hand gedrückt. Miss Herbey hat ebenfalls geschlum-
mert, und ihre jetzt weniger angegriffenen Züge haben
ihre gewohnte Ruhe wieder angenommen.
Wir befinden uns unterhalb des 15. Breitengrads. Die
Hitze am Tag ist sehr stark, und die Sonne strahlt un-
gewöhnlich hell. Ein heißer Dunst schwebt in der At-
mosphäre. Da der Wind nur stoßweise auftritt, hängt
— 178 —
das Segel während der Ruhepausen, die immer länger
werden, schlaff am Mast. Robert Kurtis und der Boots-
mann wollen aus gewissen nur den Seeleuten verständ-
lichen Zeichen erkennen, daß eine Strömung von 2 bis 3
Meilen in der Stunde uns nach Westen weiterträgt. Das
wäre ein sehr günstiger Umstand, der unsere Überfahrt
merklich abkürzen könnte. Mögen der Kapitän und der
Hochbootsmann sich nicht getäuscht haben, denn bei
der hohen Lufttemperatur dieser Tage will die Wasser-
ration kaum reichen, nur unsern quälendsten Durst zu
löschen.
Und doch, seitdem wir die ›Chancellor‹ oder viel-
mehr die Mastkörbe des Schiffes verlassen und uns auf
dem Floß eingeschifft haben, hat sich unsere Lage we-
sentlich verbessert, denn die ›Chancellor‹ konnte jede
Minute untergehen, und die Plattform, die uns trägt, ist
wenigstens fest und solide. Alle, ich wiederhole es, er-
kennen auch die jetzige günstige Lage unverhohlen an.
Man lebt fast ganz nach seinem Vergnügen und kann
hin und her gehen. Am Tag tritt man wohl zusammen,
plaudert, bespricht dieses und jenes, oder betrachtet das
Meer. In der Nacht schläft man unter der Segeldecke.
Die Beobachtung des Himmels, die nötige Aufmerk-
samkeit auf die Logleinen, die zur Bestimmung der Ge-
schwindigkeit der Fahrt ausgelegt sind, alles erweckt
unser Interesse.
»Mr. Kazallon«, sagt da André Letourneur einige
— 179 —
Tage nach unserer Einschiffung auf dem neuen Appa-
rat zu mir, »es scheint, als sollten wir hier die Tage der
Ruhe wiederfinden, die unseren Aufenthalt auf dem
Ham-Rock-Eiland so angenehm machten.«
»Gewiß, so scheint es, mein lieber André«, habe ich
geantwortet.
»Doch möchte ich auch hinzufügen, daß das Floß vor
dem Eiland einen großen Vorzug hat, – es trägt uns wei-
ter!«
»So lange wir günstigen Wind behalten, André, ist der
Vorzug offenbar auf der Seite des Floßes, wenn dieser
aber umschlägt . . .«
»Sie haben recht, Mr. Kazallon«, antwortet mir der
junge Mann. »Doch wir wollen nicht niedergeschlagen
sein, sondern frohe Hoffnung haben!«
Jawohl, diese Hoffnung hegen jetzt auch alle anderen!
Es gewinnt den Anschein, daß wir die fürchterlichsten
Prüfungen für immer überstanden haben! Alle Verhält-
nisse sind uns günstig geworden, und es ist keiner unter
uns, der sich jetzt nicht beruhigt fühlte!
Was in der Seele Robert Kurtis’ vorgeht, weiß ich
nicht; ebensowenig, ob er unsere Gedanken teilt, denn
er hält sich etwas abseits. Gewiß ist seine große Verant-
wortung daran schuld! Er ist der Chef, der nicht nur für
sein eigenes Leben, sondern auch für das aller übrigen
zu sorgen hat! Ich weiß, daß er seine Pflicht in diesem
— 180 —
Sinn auffaßt. Oft sehen wir ihn in Gedanken versunken,
und jeder vermeidet es dann, ihn zu stören.
Die langen Stunden ohne Beschäftigung bringt der
größte Teil der Mannschaft auf dem Vorderteil schla-
fend zu. Auf Anordnung des Kapitäns ist der Hinterteil
für die Passagiere reserviert worden, wo man auf Stan-
gen eine Art Zelt errichtet hat, das uns einigen Schutz
gewährt. Wir erfreuen uns alle eines befriedigenden
Wohlseins. Nur Leutnant Walter kann nicht wieder zu
Kräften kommen. Alle ihm zugewandte Sorgfalt ist ver-
gebens, und er wird von Tag zu Tag schwächer.
André Letourneur habe ich niemals mehr schätzen
gelernt, als unter unseren jetzigen Verhältnissen. Die-
ser liebenswürdige junge Mann ist die Seele unserer
kleinen Welt. Bei seinem originellen Geist überrascht
er häufig durch seine neuen Ideen und unerwarteten
Anschauungen der Sachen, die ihm so eigen sind. Seine
Unterhaltung zerstreut immer und belehrt nicht selten.
Wenn André spricht, belebt sich seine kränkelnde Phy-
siognomie. Sein Vater scheint seine Worte aufzusaugen,
und manchmal erfaßt er die Hand des Sohnes, die er
lange Zeit betrachtet.
Dann und wann mischt sich auch, obwohl mit sorg-
lichster Zurückhaltung, Miss Herbey in unser
Weitere Kostenlose Bücher