Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
wird schwin-
    delig, so als ob ich in einen Abgrund blickte.
    Die Erscheinungen gleichen sich aber nicht bei al-
    len von uns, und einige meiner Gefährten leiden schon
    ganz entsetzlich, unter anderm Daoulas, der Zimmer-
    mann, und der Bootsmann, die von Natur starke Esser
    sind. Die Hungerqualen pressen ihnen unwillkürlich
    Schmerzensschreie aus, und sie schnüren sich mit ei-
    nem Strick zusammen. Wir sind aber jetzt erst am zwei-
    ten Tag!
    Oh, jenes halbe Pfund Zwieback, jene magere Rati-
    onen, die uns noch vor wenig Tagen so unzureichend
    erschienen, wie vergrößern sie unser Verlangen, wie
    enorm erscheinen sie uns jetzt, da wir gar nichts mehr
    haben! Wenn man uns jetzt diese Stückchen Zwieback
    noch zuteilte, nur die Hälfte, ja, nur ein Viertel davon,
    wir würden mehrere Tage damit auskommen! Bissen
    für Bissen würden sie nur verzehrt werden!
    Wenn in einer belagerten Stadt Mangel herrscht,
    kann man im Müll, in den Flüssen, in einem Winkel ei-
    nen abgenagten Knochen finden, eine weggeworfene
    Wurzel, die den Hunger eine Zeitlang wegtäuscht! Auf
    diesen Brettern aber, welche die Wogen unzählige Male
    überfluteten, in deren Fugen man schon gierig nachge-
    sucht, deren Ecken und Winkel, in die der Wind einige
    Brosamen hätte treiben können, man schon wieder und
    — 217 —
    wieder ausgescharrt hat, was könnte man hier wohl zu
    finden hoffen?
    Wie lang werden uns die Nächte – noch länger als
    die Tage! Vergeblich erhofft man vom Schlaf eine vorü-
    bergehende Milderung dieser Leiden. Wenn sich unsere
    bleiernen Augenlider dann einmal schließen, verfallen
    wir vielmehr einer fieberhaften Betäubung, die uns mit
    Alpdrücken quält.
    Und doch, die letzte Nacht unterlag ich der Erschöp-
    fung und habe einige Stunden ruhen können.
    Am nächsten Tag erwache ich um 6 Uhr morgens
    durch lautes Geschrei. Ich springe auf und sehe im Vor-
    derteil den Neger Jynxtrop, die Matrosen Owen, Flay-
    pol, Wilson, Burke und Sandon wie zum Angriff zu-
    sammengetreten. Diese Schurken haben sich der Werk-
    zeuge des Zimmermanns, der Äxte, des Beils, der Mei-
    ßel usw., bemächtigt, und bedrohen damit den Kapitän,
    den Bootsmann und Daoulas. Ich geselle mich schleu-
    nigst zu Robert Kurtis und seinen Leuten. Falsten folgt
    mir unmittelbar. Wir haben als Waffen zwar nur unsere
    Messer, sind aber nicht minder entschlossen, uns zu
    verteidigen.
    Owen und die übrigen dringen auf uns zu. Die Ver-
    blendeten sind betrunken: in der Nacht haben sie das
    Branntweinfäßchen gestohlen und es fast ausgetrun-
    ken.
    Was mögen sie wollen?
    — 218 —
    Owen und der Neger, die noch am meisten bei Sin-
    nen zu sein scheinen, reizen die anderen auf, uns nie-
    derzumachen, und jene unterliegen gewissermaßen ei-
    ner Art Säuferwahnsinn.
    »Nieder mit Kurtis!« rufen sie. »Ins Meer mit dem
    Kapitän! Owen kommandiert! Owen kommandiert!«
    Owen ist der Anführer der Rotte, ihm folgt der Ne-
    ger. Der Haß dieser beiden Kerle gegen ihren Offizier
    äußert sich jetzt in einem Gewaltstreich, der im Fall des
    Gelingens unsere Lage gewiß nicht zu bessern imstande
    wäre. Ihre Partner, die kaum denken können, aber sich
    besser bewaffnet haben als wir, sind uns jetzt immerhin
    furchterregend.
    Als Robert Kurtis sie herankommen sieht, geht er ih-
    nen entgegen und ruft mit fester Stimme:
    »Die Waffen weg!«
    »Tod dem Kapitän!« heult Owen.
    Dieser Schuft treibt seine Genossen durch Handbe-
    wegungen an; doch Robert Kurtis weicht der betrunke-
    nen Rotte aus und stellt sich direkt vor ihn hin.
    »Was willst du?« fragt er jenen.
    »Keinen Kommandanten auf dem Floß!« antwortet
    Owen, »hier sollen alle gleich sein!«
    Der Verblendete! Als ob wir, das Elend vor uns, nicht
    alle schon gleich wären!
    »Owen«, wiederholt der Kapitän noch einmal, »die
    Waffen weg!«

    — 219 —
    — 220 —
    »Tapfer drauf, ihr anderen!« brüllt Owen.
    Es entspinnt sich ein Kampf. Owen und Wilson stür-
    zen auf Robert Kurtis, der ihre Schläge mit einem Pfahl
    abwehrt, während Burke und Flaypol auf den Boots-
    mann eindringen. Ich habe den Neger Jynxtrop als Geg-
    ner, der ein Beil schwingend mich zu treffen sucht. Ich
    versuche ihn mit den Armen zu umschlingen, um seine
    Bewegungen zu behindern, aber die Muskelkraft dieses
    Spitzbuben übertrifft meine, und nach einigen Augen-
    blicken des Widerstands fühle ich, daß ich wohl unter-
    liegen muß, als Jynxtrop plötzlich auf die Plattform hin-
    rollt und mich im Sturz mit sich reißt.

Weitere Kostenlose Bücher