Die Chancellor
darstellt, und wir
sind doch schon an dem Punkt angelangt, die letzten
Brocken zu zählen.
Der Hochbootsmann, der die gewöhnlichen Mittel er-
schöpft hat, kommt auf den Einfall, ein Stückchen Stoff-
gewebe an die Nägel zu befestigen. Miss Herbey opfert
deshalb eine Ecke des roten Shawltuchs, das sie trägt,
und vielleicht lockt der rote, unter dem Wasser lebhaft
leuchtende Stoff einen gefräßigen Meeresbewohner an.
Im Lauf des 30. Dezember schreitet man zu diesem
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neuen Versuch. Mehrere Stunden lang läßt man die
Schnüre dem Floß in beträchtlicher Tiefe nachschwim-
men, doch wenn sie heraufgezogen werden, zeigt sich
das rote Wollstückchen immer vollkommen unver-
sehrt.
Dem Hochbootsmann sinkt aller Mut. Hier versiegt
uns noch eine Quelle, auf die wir unsere Hoffnung setz-
ten. Was würde man nicht für den ersten Fisch bieten,
mit dem man dann andere zu fangen imstande wäre!
»Ein einziges Mittel gäbe es noch, unsere Angeln mit
einem Köder zu versehen!« sagt der Bootsmann halb-
laut zu mir.
»Und welches?« fragte ich ihn.
»Das werden Sie später erfahren!« antwortet mir der
Seemann und wirft mir einen unverständlichen Blick
zu.Was sollen diese Worte eines Mannes bedeuten, den
ich immer als sehr zurückhaltend gekannt habe? Die
ganze Nacht hindurch kommen sie mir nicht aus dem
Sinn.
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1. bis 5. Januar. – Es sind nun 3 Monate verflossen, daß
wir Charleston auf der ›Chancellor‹ verlassen, und 20
Tage, die wir schon auf dem Floß, von der Gnade der
Winde und Strömungen abhängig, verbracht haben!
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Sind wir weiter nach Westen, nach der amerikanischen
Küste gekommen, oder hat uns das Unwetter noch wei-
ter von jedem Land verschlagen? Es ist jetzt sogar un-
möglich geworden, hierüber klarzuwerden. Bei dem
letzten, uns so verderblichen Sturm sind auch die In-
strumente des Kapitäns trotz aller Vorsichtsmaßnah-
men beschädigt worden, und Robert Kurtis besitzt jetzt
weder einen Kompaß, um die Richtung zu bestimmen,
in der wir fahren, noch einen Sextanten, um eine Hö-
henmessung vorzunehmen. Sind wir nun einer Küste
nahe oder noch Hunderte von Meilen davon entfernt?
Man kann es nicht wissen, doch ist, da alle Umstände
gegen uns gewesen sind, vielmehr zu befürchten, daß
wir noch weiter hinausgetrieben wurden.
Diese absolute Unkenntnis unserer Lage hat etwas
Beängstigendes; doch so wie die Hoffnung nie des Men-
schen Herz verläßt, so lieben wir es trotz aller Gegen-
gründe zu glauben, daß eine Küste in der Nähe sei. Je-
der beobachtet den Horizont und sucht in dessen glatt
verlaufender Linie Land zu entdecken. Wie häufig täu-
schen uns Passagiere die Augen! Ein Nebel, eine Wolke,
eine Bewegung des Wassers! Kein Land erscheint, kein
Schiff verirrt sich in den unendlichen Kreis um uns, in
dem Himmel und Meer verschmelzen, und dessen Mitte
das Floß unverändert einnimmt.
Am 1. Januar haben wir unseren letzten Zwieback
verzehrt oder richtiger, unseren letzten Brocken Zwie-
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back! Am 1. Januar! Welche Erinnerungen weckt dieser
Tag, und wie traurig erscheint uns dagegen der heutige!
Das neue Jahr, sein erster Tag, wie brachte man sich ein-
ander seine Wünsche dar, schmeichelte man sich mit
den Hoffnungen, die das Herz erfüllten – uns ziemt sich
nichts von alldem! Die Worte: »Ich wünsche Ihnen ein
glückliches Neujahr!«, die man doch nur mit freudigem
Angesicht aussprechen kann, wem von uns kämen sie
jetzt über die Lippen? Wer vermöchte auch nur einen
Tag für sich selbst noch zu hoffen?
Da nähert sich mir der Hochbootsmann, sieht mich
ganz eigentümlich an und sagt:
»Mr. Kazallon, ich wünsche Ihnen einen glück. . .«
»Ein glückliches neues Jahr?«
»Nein! Nur einen glücklichen Tag, und das will schon
viel sagen, denn wir haben nichts mehr zu essen auf
dem Floß!«
Nichts mehr! Wir wußten es ja, und doch, als die
Stunde der Verteilung kam, traf es uns wie ein neuer
Schlag. Man mochte an diesen absoluten Mangel an al-
lem nicht glauben!
Gegen Abend fühle ich ein heftiges Zusammenziehen
des Magens; dann folgt ihm ein schmerzhaftes Gähnen,
das sich 2 Stunden nachher ein wenig mindert.
Am nächsten Tag, dem 3. Januar, bin ich sehr er-
staunt, nicht mehr zu leiden. Ich fühle in mir eine
furchtbare Leere, doch ist das ebenso ein Gefühl geis-
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tiger wie körperlicher Zerschlagenheit. Mein schwerer
Kopf schwankt auf den Schultern, und mir
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