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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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darstellt, und wir
    sind doch schon an dem Punkt angelangt, die letzten
    Brocken zu zählen.
    Der Hochbootsmann, der die gewöhnlichen Mittel er-
    schöpft hat, kommt auf den Einfall, ein Stückchen Stoff-
    gewebe an die Nägel zu befestigen. Miss Herbey opfert
    deshalb eine Ecke des roten Shawltuchs, das sie trägt,
    und vielleicht lockt der rote, unter dem Wasser lebhaft
    leuchtende Stoff einen gefräßigen Meeresbewohner an.
    Im Lauf des 30. Dezember schreitet man zu diesem
    — 213 —
    neuen Versuch. Mehrere Stunden lang läßt man die
    Schnüre dem Floß in beträchtlicher Tiefe nachschwim-
    men, doch wenn sie heraufgezogen werden, zeigt sich
    das rote Wollstückchen immer vollkommen unver-
    sehrt.
    Dem Hochbootsmann sinkt aller Mut. Hier versiegt
    uns noch eine Quelle, auf die wir unsere Hoffnung setz-
    ten. Was würde man nicht für den ersten Fisch bieten,
    mit dem man dann andere zu fangen imstande wäre!
    »Ein einziges Mittel gäbe es noch, unsere Angeln mit
    einem Köder zu versehen!« sagt der Bootsmann halb-
    laut zu mir.
    »Und welches?« fragte ich ihn.
    »Das werden Sie später erfahren!« antwortet mir der
    Seemann und wirft mir einen unverständlichen Blick
    zu.Was sollen diese Worte eines Mannes bedeuten, den
    ich immer als sehr zurückhaltend gekannt habe? Die
    ganze Nacht hindurch kommen sie mir nicht aus dem
    Sinn.
    38
    1. bis 5. Januar. – Es sind nun 3 Monate verflossen, daß
    wir Charleston auf der ›Chancellor‹ verlassen, und 20
    Tage, die wir schon auf dem Floß, von der Gnade der
    Winde und Strömungen abhängig, verbracht haben!
    — 214 —
    Sind wir weiter nach Westen, nach der amerikanischen
    Küste gekommen, oder hat uns das Unwetter noch wei-
    ter von jedem Land verschlagen? Es ist jetzt sogar un-
    möglich geworden, hierüber klarzuwerden. Bei dem
    letzten, uns so verderblichen Sturm sind auch die In-
    strumente des Kapitäns trotz aller Vorsichtsmaßnah-
    men beschädigt worden, und Robert Kurtis besitzt jetzt
    weder einen Kompaß, um die Richtung zu bestimmen,
    in der wir fahren, noch einen Sextanten, um eine Hö-
    henmessung vorzunehmen. Sind wir nun einer Küste
    nahe oder noch Hunderte von Meilen davon entfernt?
    Man kann es nicht wissen, doch ist, da alle Umstände
    gegen uns gewesen sind, vielmehr zu befürchten, daß
    wir noch weiter hinausgetrieben wurden.
    Diese absolute Unkenntnis unserer Lage hat etwas
    Beängstigendes; doch so wie die Hoffnung nie des Men-
    schen Herz verläßt, so lieben wir es trotz aller Gegen-
    gründe zu glauben, daß eine Küste in der Nähe sei. Je-
    der beobachtet den Horizont und sucht in dessen glatt
    verlaufender Linie Land zu entdecken. Wie häufig täu-
    schen uns Passagiere die Augen! Ein Nebel, eine Wolke,
    eine Bewegung des Wassers! Kein Land erscheint, kein
    Schiff verirrt sich in den unendlichen Kreis um uns, in
    dem Himmel und Meer verschmelzen, und dessen Mitte
    das Floß unverändert einnimmt.
    Am 1. Januar haben wir unseren letzten Zwieback
    verzehrt oder richtiger, unseren letzten Brocken Zwie-
    — 215 —
    back! Am 1. Januar! Welche Erinnerungen weckt dieser
    Tag, und wie traurig erscheint uns dagegen der heutige!
    Das neue Jahr, sein erster Tag, wie brachte man sich ein-
    ander seine Wünsche dar, schmeichelte man sich mit
    den Hoffnungen, die das Herz erfüllten – uns ziemt sich
    nichts von alldem! Die Worte: »Ich wünsche Ihnen ein
    glückliches Neujahr!«, die man doch nur mit freudigem
    Angesicht aussprechen kann, wem von uns kämen sie
    jetzt über die Lippen? Wer vermöchte auch nur einen
    Tag für sich selbst noch zu hoffen?
    Da nähert sich mir der Hochbootsmann, sieht mich
    ganz eigentümlich an und sagt:
    »Mr. Kazallon, ich wünsche Ihnen einen glück. . .«
    »Ein glückliches neues Jahr?«
    »Nein! Nur einen glücklichen Tag, und das will schon
    viel sagen, denn wir haben nichts mehr zu essen auf
    dem Floß!«
    Nichts mehr! Wir wußten es ja, und doch, als die
    Stunde der Verteilung kam, traf es uns wie ein neuer
    Schlag. Man mochte an diesen absoluten Mangel an al-
    lem nicht glauben!
    Gegen Abend fühle ich ein heftiges Zusammenziehen
    des Magens; dann folgt ihm ein schmerzhaftes Gähnen,
    das sich 2 Stunden nachher ein wenig mindert.
    Am nächsten Tag, dem 3. Januar, bin ich sehr er-
    staunt, nicht mehr zu leiden. Ich fühle in mir eine
    furchtbare Leere, doch ist das ebenso ein Gefühl geis-
    — 216 —
    tiger wie körperlicher Zerschlagenheit. Mein schwerer
    Kopf schwankt auf den Schultern, und mir

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