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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Kranken abdarbt, hat vom
    Kapitän eine kleine Zugabe erwirkt, und jede Viertel-
    stunde träufelt sie ein wenig davon auf die Lippen des
    Leutnants. Walter vermag kaum ein Wort zu sprechen
    und lohnt dem barmherzigen jungen Mädchen nur mit
    einem dankbaren Blick. Der Ärmste! Sein Urteil ist ge-
    sprochen, und auch die zärtlichste Sorgfalt könnte ihn
    nicht retten, er wird wenigstens nicht allzulange zu lei-
    den haben!
    Übrigens scheint er sich über seinen Zustand keiner
    Selbsttäuschung hinzugeben, denn er ruft mich durch
    ein Zeichen zu sich, und ich setze mich dicht neben ihn.
    Er rafft seine letzte Kraft zusammen, um zu sprechen,
    und haucht mir in unterbrochener Rede zu:
    »Mr. Kazallon, wird es mit mir noch lange dauern?«
    So wenig ich auch nur mit der Antwort zögere, Walter
    bemerkt es doch.

    — 209 —
    — 210 —
    »Die Wahrheit!« fährt er fort. »Bitte, die volle Wahr-
    heit!«
    »Ich bin ja kein Arzt, ich kann nicht wissen . . .«
    »Das macht nichts! Geben Sie mir Antwort, ich bitte
    Sie . . .!«
    Ich fasse den Kranken aufmerksam ins Auge und lege
    mein Ohr auf seine Brust. Seit einigen Tagen hat die
    Phthisis furchtbare Fortschritte in ihm gemacht. Offen-
    bar funktioniert der eine Lungenflügel gar nicht mehr
    und der andere vermag dem Atembedürfnis nur noch
    mit knapper Not zu entsprechen. Gleichzeitig leidet
    Walter an einem sehr heftigen Fieber, das bei tuberku-
    lösen Erkrankungen ein Symptom des nahen Endes zu
    sein pflegt.
    Was kann ich auf die Frage des Leutnants antwor-
    ten?
    Forschend ruht sein Blick auf mir, so daß ich mir
    kaum zu helfen weiß, und ich suche nach einer auswei-
    chenden Erwiderung.
    »Mein lieber Freund«, sage ich, »bei der Lage, in der
    wir uns befinden, kann überhaupt niemand von sich sa-
    gen, ob er noch lange zu leben habe. Wer weiß, ob nicht
    vor Ablauf einer Woche alle, die das Floß jetzt trägt . . .«
    »Vor Ablauf einer Woche!« murmelt der Leutnant,
    dessen brennender Blick auf mir haftet.
    Dann wendet er den Kopf und scheint einzuschlum-
    mern.
    — 211 —
    Am 24., 25. und 26. Dezember hat sich an unserer Si-
    tuation nicht das geringste geändert. So unglaublich es
    erscheinen mag, so haben wir uns doch allmählich an
    das Hungern gewöhnt. Die Berichte von Schiffbrüchi-
    gen haben nicht selten Tatsachen angeführt, die mit den
    hier beobachteten übereinstimmen. Wenn ich sie las,
    war ich geneigt, sie für Übertreibungen zu halten. Darin
    täuschte ich mich, und ich sehe jetzt wohl ein, daß ein
    Mangel an Nahrung weit länger ertragen werden kann,
    als ich je geglaubt hätte. Überdies hat der Kapitän unse-
    rem halben Pfund Schiffszwieback jetzt einige Tropfen
    Branntwein hinzugefügt, und diese Kost erhält unsere
    Kräfte mehr, als man annehmen sollte. Oh, wenn wir
    dieser Rationen für 2 Monate, ach, nur für einen, sicher
    wären! Doch unser Vorrat geht zu Ende, und jeder kann
    den Augenblick voraussehen, in dem auch diese magere
    Nahrung uns völlig fehlen muß.
    Um jeden Preis müssen wir also aus dem Meer eine
    Vermehrung unserer Nahrungsmittel zu erlangen su-
    chen, was jetzt immerhin ziemlich schwierig ist. In-
    dessen fertigen der Hochbootsmann und der Zimmer-
    mann aus aufgelösten Seilen neue Angelschnüre an und
    versehen diese mit aus den Planken gezogenen, krumm
    gebogenen Nägeln.
    Der Hochbootsmann scheint mit dem Ergebnis der
    Arbeit ganz zufriedengestellt zu sein.
    »Das sind zwar keine tadellosen Angelhaken, diese
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    Nägel«, sagt er zu mir, »doch ein Fisch könnte an ihnen
    ebensogut hängenbleiben, wenn wir nur einen Köder da-
    ran hätten. Nun haben wir als solchen aber bloß Schiffs-
    zwieback, der daran nicht lange halten kann. Wenn es
    erst gelungen ist, einen zu fangen, würde ich die Angeln
    mit seinem Fleisch als Köder versehen. Aber den ersten
    Fisch zu erlangen, darin liegt die große Schwierigkeit!«
    Der Hochbootsmann hat recht, und voraussichtlich
    ist unser Angeln erfolglos. Doch man probiert es auf gut
    Glück, und die Schnüre werden ausgelegt. Wie zu er-
    warten stand, »beißt« indessen kein Fisch »an«, und of-
    fenbar ist das Meer hier auch nicht gerade fischreich.
    Während des 28. und 29. Dezember setzen wir unsere
    vergeblichen Versuche fort. Die Zwiebackstücke, die an
    die Nägel gesteckt werden, erweichen sich natürlich im
    Wasser, fallen ab und müssen immer wieder erneuert
    werden. Damit verschwenden wir aber einen Teil der
    Substanz, die unsere einzige Nahrung

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