Die Chancellor
Kranken abdarbt, hat vom
Kapitän eine kleine Zugabe erwirkt, und jede Viertel-
stunde träufelt sie ein wenig davon auf die Lippen des
Leutnants. Walter vermag kaum ein Wort zu sprechen
und lohnt dem barmherzigen jungen Mädchen nur mit
einem dankbaren Blick. Der Ärmste! Sein Urteil ist ge-
sprochen, und auch die zärtlichste Sorgfalt könnte ihn
nicht retten, er wird wenigstens nicht allzulange zu lei-
den haben!
Übrigens scheint er sich über seinen Zustand keiner
Selbsttäuschung hinzugeben, denn er ruft mich durch
ein Zeichen zu sich, und ich setze mich dicht neben ihn.
Er rafft seine letzte Kraft zusammen, um zu sprechen,
und haucht mir in unterbrochener Rede zu:
»Mr. Kazallon, wird es mit mir noch lange dauern?«
So wenig ich auch nur mit der Antwort zögere, Walter
bemerkt es doch.
— 209 —
— 210 —
»Die Wahrheit!« fährt er fort. »Bitte, die volle Wahr-
heit!«
»Ich bin ja kein Arzt, ich kann nicht wissen . . .«
»Das macht nichts! Geben Sie mir Antwort, ich bitte
Sie . . .!«
Ich fasse den Kranken aufmerksam ins Auge und lege
mein Ohr auf seine Brust. Seit einigen Tagen hat die
Phthisis furchtbare Fortschritte in ihm gemacht. Offen-
bar funktioniert der eine Lungenflügel gar nicht mehr
und der andere vermag dem Atembedürfnis nur noch
mit knapper Not zu entsprechen. Gleichzeitig leidet
Walter an einem sehr heftigen Fieber, das bei tuberku-
lösen Erkrankungen ein Symptom des nahen Endes zu
sein pflegt.
Was kann ich auf die Frage des Leutnants antwor-
ten?
Forschend ruht sein Blick auf mir, so daß ich mir
kaum zu helfen weiß, und ich suche nach einer auswei-
chenden Erwiderung.
»Mein lieber Freund«, sage ich, »bei der Lage, in der
wir uns befinden, kann überhaupt niemand von sich sa-
gen, ob er noch lange zu leben habe. Wer weiß, ob nicht
vor Ablauf einer Woche alle, die das Floß jetzt trägt . . .«
»Vor Ablauf einer Woche!« murmelt der Leutnant,
dessen brennender Blick auf mir haftet.
Dann wendet er den Kopf und scheint einzuschlum-
mern.
— 211 —
Am 24., 25. und 26. Dezember hat sich an unserer Si-
tuation nicht das geringste geändert. So unglaublich es
erscheinen mag, so haben wir uns doch allmählich an
das Hungern gewöhnt. Die Berichte von Schiffbrüchi-
gen haben nicht selten Tatsachen angeführt, die mit den
hier beobachteten übereinstimmen. Wenn ich sie las,
war ich geneigt, sie für Übertreibungen zu halten. Darin
täuschte ich mich, und ich sehe jetzt wohl ein, daß ein
Mangel an Nahrung weit länger ertragen werden kann,
als ich je geglaubt hätte. Überdies hat der Kapitän unse-
rem halben Pfund Schiffszwieback jetzt einige Tropfen
Branntwein hinzugefügt, und diese Kost erhält unsere
Kräfte mehr, als man annehmen sollte. Oh, wenn wir
dieser Rationen für 2 Monate, ach, nur für einen, sicher
wären! Doch unser Vorrat geht zu Ende, und jeder kann
den Augenblick voraussehen, in dem auch diese magere
Nahrung uns völlig fehlen muß.
Um jeden Preis müssen wir also aus dem Meer eine
Vermehrung unserer Nahrungsmittel zu erlangen su-
chen, was jetzt immerhin ziemlich schwierig ist. In-
dessen fertigen der Hochbootsmann und der Zimmer-
mann aus aufgelösten Seilen neue Angelschnüre an und
versehen diese mit aus den Planken gezogenen, krumm
gebogenen Nägeln.
Der Hochbootsmann scheint mit dem Ergebnis der
Arbeit ganz zufriedengestellt zu sein.
»Das sind zwar keine tadellosen Angelhaken, diese
— 212 —
Nägel«, sagt er zu mir, »doch ein Fisch könnte an ihnen
ebensogut hängenbleiben, wenn wir nur einen Köder da-
ran hätten. Nun haben wir als solchen aber bloß Schiffs-
zwieback, der daran nicht lange halten kann. Wenn es
erst gelungen ist, einen zu fangen, würde ich die Angeln
mit seinem Fleisch als Köder versehen. Aber den ersten
Fisch zu erlangen, darin liegt die große Schwierigkeit!«
Der Hochbootsmann hat recht, und voraussichtlich
ist unser Angeln erfolglos. Doch man probiert es auf gut
Glück, und die Schnüre werden ausgelegt. Wie zu er-
warten stand, »beißt« indessen kein Fisch »an«, und of-
fenbar ist das Meer hier auch nicht gerade fischreich.
Während des 28. und 29. Dezember setzen wir unsere
vergeblichen Versuche fort. Die Zwiebackstücke, die an
die Nägel gesteckt werden, erweichen sich natürlich im
Wasser, fallen ab und müssen immer wieder erneuert
werden. Damit verschwenden wir aber einen Teil der
Substanz, die unsere einzige Nahrung
Weitere Kostenlose Bücher