Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Chorknaben

Die Chorknaben

Titel: Die Chorknaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
Vom Netzwerk:
schwang. Er haßte sie. Sie litten. Sie wollten etwas. Wie der ›Stöhnende Mann‹, als er auf seinem Bett saß, der auch noch im Tod litt und etwas wollte. Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Nie ließen sie einen allein. Sie machten nicht einmal vor dem Tod Halt. Bis sie jemand berührte. Er verachtete sie alle. Er haßte sie, wie er seine schwachen, kaputten, widerlichen Eltern gehaßt hatte. Sam Niles hatte noch nie jemanden gebraucht. Mit Ausnahme einer Minute, sechzig Sekunden seines Lebens.
    Er blieb auf dem letzten Treppenabsatz stehen und wartete auf den schnaufenden kleinen Mann, der ihn dieses eine Mal gesehen hatte, als auch er jemanden brauchte. Und er hatte Angst, daß er, falls Harold je diesen Augenblick in der erstickenden Dunkelheit dieser Höhle erwähnt hätte, jetzt, auf der Stelle, seinen Revolver gezogen und ihn mitten auf dieser Treppe erschossen hätte. Aber Harold hatte nie darüber gesprochen. Nicht einmal mit Sam. Sam hoffte, daß Harold die ganze Geschichte in seiner eigenen schrecklichen Angst einfach vergessen hatte. Manchmal war Sam Niles sogar schon zu der Überzeugung gelangt, daß das alles nie geschehen war.
    »Was hast du's denn so eilig, Sam?« keuchte Harold noch ganz außer Atem. Nicht im Traum wäre er auf die Idee gekommen, seinem Partner vorzuschlagen, den Lift zu nehmen, da er Sam wesentlich besser verstand, als dieser sich je hätte träumen können. »Was soll denn dieses Gehetze?«
    »Ach nichts«, entgegnete Sam böse. »Wer hetzt denn hier?« Fünf Minuten später, im Wagen, brüllte Sam Niles dann: »Verdammt, der Kerl war ein Deputy Sheriff, den ich vom Gericht kenne! Du kennst den Kerl nicht. Sein Name ist also völlig unwichtig. Jedenfalls wollte ich ihm noch mal 'ne Chance geben. Er hat mir erzählt, er hätte Frau und Kinder, und er wolle auch einen Psychiater aufsuchen. Ich habe eine Entscheidung gefällt, und von jetzt ab will ich kein Wort mehr darüber verlieren!« Und obwohl es auch nie dazu kam, kratzte sich Harold Bloomguard nicht nur in jener Nacht mit seinem Taschenmesser am Hals und ließ Speichelbläschen von seiner Zunge tröpfeln, sondern auch am nächsten Nachmittag, als sich Baxter Slate plötzlich krank meldete; er hätte Grippe. Harold hörte, wie Sam Niles Baxters Partner, Spermwhale Whalen, ausquetschte, ob er wüßte, was mit Baxter los sei. Harold konnte sehen, daß Sam beunruhigt schien, als Spermwhale ihm keine näheren Auskünfte geben konnte.
    Als Baxter Slate am Donnerstag, für den die Singstunde angesetzt war, nicht zum Dienst erschien und Sam Niles völlig überdreht und hektisch wirkte, als er in seine Uniform schlüpfte, legte sich Harold einen funkelnagelneuen Ausschlag am Hals zu und begann gleichzeitig, Verdacht zu schöpfen, daß Gina Summers' Freier keineswegs ein Deputy Sheriff gewesen war.
    Im Versammlungsraum waren die Chorknaben an besagtem Donnerstagnachmittag recht guter Dinge, da Sergeant Nick Yanov den Appell allein abhielt. Aber Nick Yanov trat mit grimmiger Miene in den Raum und schien die Witze gar nicht zu hören, die von den Männern in der ersten Reihe an ihn gerichtet wurden. Obwohl seine Kiefer durch seinen enormen Bartwuchs, dem er erst vier Stunden zuvor zu Leibe gerückt war, so dunkel und entschlossen wie eh und je wirkten, schimmerten seine Stirn und seine baltischen Backenknochen in auffälligem Weiß. Auch um die Augen herum war er ungewöhnlich blaß. Seine Hände zitterten, als er sich eine Zigarette ansteckte. Die Männer verstummten. Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht mit Nick Yanov.
    Er sog ausgiebig an seiner Zigarette und verkündete: »Baxter Slate ist tot. Sie haben ihn eben in seiner Wohnung gefunden. Er hat sich erschossen. Spermwhale, Sie fahren heute einen Meldewagen. Ihre Einheit ist Sieben-U-Eins. Wollen Sie vielleicht gleich nach draußen gehen und sich Ihren Wagen holen?« Für einen Augenblick war es totenstill im Raum. Niemand rührte sich oder sprach ein Wort, während Nick Yanov auf Spermwhale wartete. Sogar das Summen der elektrischen Wanduhr konnte man hören. Schließlich sagte Spermwhale:
    »Sind Sie auch sicher, Sergeant?«
    »Gehen Sie runter und holen Sie Ihren Wagen, Spermwhale«, sagte Nick Yanov ruhig. Aber so zittrig Spermwhale auch aussah, als er seine Sachen nahm und zur Tür ging – Harold Bloomguard zitterte noch mehr, als er zu Sam Niles hinüberblickte, der einen heftigen Schweißausbruch hatte und Mühe hatte, genügend Luft zu bekommen, obwohl er sich

Weitere Kostenlose Bücher