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Die Chorknaben

Die Chorknaben

Titel: Die Chorknaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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gestorben. Das hat der Doktor gesagt. Jedes Organ in seinem Körper war alt und verrottet. Und ich werde auch nicht mehr lange durchhalten. Zumindest bin ich dann meine Alte los. Ich kann dir sagen, Padre, die hat eine Zunge, die ist so spitz, daß es wirklich ein Wunder ist, daß sie sich noch nicht das Maul in Stücke geschnitten hat und verblutet ist.«
    »Willst du mal mit Geneva und mir in die Kirche kommen?« schlug Pater Willie vor. »Einige der besten Zeugen, die ich kenne, haben erst sehr spät zu Gott gefunden. Und was die frühzeitigen Todesfälle in deiner Familie betrifft …«
    »Verdammt noch mal, ich bin immerhin noch nicht ganz tot!« schrie Spencer plötzlich voller Angst auf. »Padre, gib mir noch eine Chance! Ich habe doch noch gar nicht richtig gelebt!«
    »Na ja, ich habe doch auch nur gemeint, wegen deiner schlechten Gesundheit solltest du …«
    »Schlechte Gesundheit? Schlechte Gesundheit? Ich bin noch viel zu jung, um ans Sterben zu denken. Meine Güte, Partner, was du für morbide Ideen hast!« Es dauerte fast eine ganze Stunde, bis Spencer sich gänzlich von der Vorstellung eines frühzeitigen Ablebens erholte. Unter den Beamten der Nachtschicht war er am häufigsten krank geschrieben. Er war hochgewachsen und kräftig, ein Mann in seinen besten Jahren, und er hatte in den sechzehn Jahren bei der Polizei Fässer von Blut und Quadratkilometer von verstümmeltem Fleisch gesehen, aber er fiel in Ohnmacht, wenn er sich am Finger einen Kratzer zuzog. Er konnte problemlos Schmerzen ertragen – bis auf seine eigenen.
    Unmittelbar vor Einbruch der Dunkelheit fuhren sie am Mary-Sinclair-Adams-Mädchenheim vorbei – eine Institution, in der bedürftige, schwangere Frauen Obdach fanden. Es war ein umgebautes zweistöckiges Haus, das zwei Blocks östlich vom Hancock Park lag und ehemals einer achtzigjährigen Jungfer als herrschaftlicher Wohnsitz gedient hatte.
    Vor dem Heim stand ein junges Mädchen mit einem Acht-Monate-Bauch – Zigarette zwischen den Lippen, Augenbrauen zu einem bleistiftstrichdünnen Bogen ausgezupft, die Lidschatten fünf Zentimeter breite, schwarze Halbkreise. Sie unterhielt sich mit drei jungen Männern auf Chopper-Bikes.
    »Der Storchclub«, bemerkte Spencer angewidert. »Sie marschieren einfach rein, lassen einen Frosch fallen und hauen wieder ab.«
    »Ich habe gehört, daß es für legal erklärt worden ist, bei diesen Mädchen, die in solche Heime eingeliefert werden, Verhütungsmittel einzusetzen«, bemerkte Pater Willie.
    »Hätte mal lieber jemand meiner Alten die Vogeltränke verstöpseln sollen«, grunzte Spencer und pustete eine dicke Wolke Rauch gegen die Windschutzscheibe. »Ich hätte dagegen sicher nichts einzuwenden gehabt. Möchte sowieso wissen, wie es diese furztrockene alte Kuh noch geschafft hat, schwanger zu werden. Und ich werde meine grundlegendsten Bedürfnisse einschränken müssen, damit das Geld reicht. Ich bin doch kein verdammter Trappistenmönch. Nicht einmal anständig essen werde ich noch können.«
    »Es wird schon klappen«, setzte Pater Willie zu einen neuerlichen Tröstungsversuch an. »Außerdem werden wir doch nach wie vor gebratene Ente mit Orangensauce essen, oder nicht, Spencer?«
    »Aber sicher.«
    »Mit glasierten Karotten und Schalotten?«
    »Klar werden wir noch immer umsonst in unseren Restaurants essen wie bisher«, beschwichtigte Spencer Pater Willie.
    »Ich habe nur gemeint, daß ich dann zu Hause am Hungertuch nagen werde. Meine Frau und die Kinder werden sich natürlich auch einschränken müssen. Vielleicht müssen sie sogar alte Kleider mit Flicken auftragen.« Pater Willie wollte schon fast vorschlagen, Spencer könnte für die Flicken vielleicht einen von seinen vierzehn maßgeschneiderten Anzügen opfern, die in seinem Kleiderschrank hingen, als sie einen Lincoln entdeckten, der an der Kreuzung Wilshire und Western ein Rotlicht überfuhr. Kaum hatte Pater Willie auf die Hupe gedrückt, fuhr der Lincoln auch schon an den Straßenrand.
    »Man muß nur lernen, mit dem Geld hinzukommen«, seufzte Spencer, während sie nach ihren Mützen, Strafzettelblöcken und Taschenlampen griffen, um auszusteigen.
    Pater Willie nickte, als sie aus dem Schwarzweißen stiegen. Ihre Wege kreuzten sich, als sie auf den Lincoln zugingen, da Pater Willie an der Reihe war, mit dem Fahrer zu sprechen, während Spencer ans Beifahrerfenster trat und mit seiner Taschenlampe ins Innere leuchtete, um Pater Willie ›Lichtschutz‹ zu bieten. Als

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