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Die Chorknaben

Die Chorknaben

Titel: Die Chorknaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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Frau bitten würde, für sein Wohlergehen und seine Sicherheit Kopf und Kragen zu riskieren. Captain Drobeck versah Sergeant Yanovs Personalbogen mit dem Vermerk: »Noch zu jung und unreif, um der Verantwortung, welche eine Kontrolltätigkeit mit sich bringt, gewachsen zu sein.« Um sich bei seinen Leuten wieder ins rechte Licht zu rücken, unterbrach Lieutenant Finque Sergeant Yanov beim Verlesen der Verbrechensmeldungen. Er hatte sich entschlossen, seinen Männern mitzuteilen, was er kurz vor dem Appell erfahren hatte: Daß nämlich ein Oberster Gerichtshof einen Mann freigesprochen hatte, der des Mordes an einem Polizisten angeklagt worden war.
    »Freigesprochen?« donnerte Spermwhale Whalen los, als der Lieutenant die Neuigkeit verkündet hatte. Aber selbst Spermwhale Whalens gewaltiges Organ ging in dem Tumult unter, den diese Nachricht auslöste.
    Man hatte den Angeklagten für einen Drogenhändler gehalten. Er ging zusammen mit einem Beamten, der sich als Käufer ausgab, und einem dritten Mann, einem Polizeispitzel, in ein Hotel. Der getarnte Beamte wollte zum Schein ein größeres Geschäft abwickeln; aber wie sich herausstellen sollte, hatte der Angeklagte kein Rauschgift bei sich. Statt dessen hatte er eine kleinkalibrige Pistole eingesteckt, mit der er auf den Beamten schoß und ihn tötete, bevor dieser das Feuer erwidern konnte. Daraufhin stahl der Angeklagte den Koffer mit dem Geld und rannte aus dem Hotelzimmer, wo er jedoch sofort von anderen Beamten verhaftet wurde, die dort auf der Lauer lagen.
    Die Polizei bezeichnete die Schießerei als Teil eines von vorneherein geplanten Raubes, bei dem es ausschließlich darum ging, das Geld zu stehlen. Der Spitzel sagte aus, daß der Angeklagte den Koffer an sich riß und ohne Warnung schoß. Der Angeklagte dagegen erklärte, der erschossene Polizist hätte plötzlich und ohne Grund seine Waffe gezogen, so daß er, der Angeklagte, in dem Glauben, er sollte beraubt werden, in Notwehr als erster feuerte. Die Ermittlungsbeamten hatten geglaubt, leichtes Spiel zu haben. Ein todsicherer Fall. Eine reine Routinesache. Das Beweismaterial war erdrückend. Es gab einen Augenzeugen. Die Geschichte des Angeklagten war ebenso verzweifelt an den Haaren herbeigezogen wie lächerlich. Aber er wurde freigesprochen.
    Nachdem er den Spruch der Geschworenen zur Kenntnis genommen hatte, erklärte der Richter, er sei schockiert. Allerdings war er nicht annähernd in dem Maß schockiert wie die achtundzwanzig Männer bei Lieutenant Finques Appell; sie würden sich nie mit derlei erschütternden Geschworenensprüchen abfinden können. Es dauerte fünf Minuten, um sie wieder zur Räson zu bringen und verschiedene Fragen beantwortet zu bekommen. Aber eigentlich waren es keine Fragen. Es waren eher Äußerungen der Wut und des Unglaubens. Aufschreie. Drohungen. Und dann ein gewalttätiges, obszönes Verdammen des Geschworenensystems.
    Baxter Slate, vielleicht der redegewandteste Chorknabe, erklärte voller Ingrimm, daß dieses Bollwerk der Demokratie in Wirklichkeit nichts weiter sei als ein billiges Pokerspiel, bei dem zwölf Elektriker, Postbeamte, Busfahrer, Rentner und Hausfrauen mittleren Alters, ohne irgendwelche Kenntnisse über das Recht oder die Natur des Soziopathen, unwiderrufliche Entscheidungen fällen, und deren Kompetenz auf nichts weiter beruhte als auf der Tatsache, daß sie Filme wie Die zwölf Geschworenen oder Perry Mason im Fernsehen gesehen hatten. Lieutenant Finque ließ sie sich austoben, bis er sich sicher war, daß sie genauso sauer waren, wie er ihretwegen immer wurde. Er strahlte vor Zufriedenheit. Nicht einmal Angst hatte er in diesem Augenblick vor ihnen.
    Ihr Zorn war so groß, daß ihnen binnen kurzem die Worte fehlten. Einen Moment lang schrill zitternde Stimmen. Fragen, unbeantwortet und unbeantwortbar. Dann Stille. Niedergeschlagenheit. Und gärende Wut.
    Dann entließ sie Lieutenant Finque mit einer weiteren Ermunterung an die Arbeit: »Und schreiben Sie sich die letzte Mahnung des Captains hinter die Ohren. Alle Raser, die gern mal ordentlich aufs Gas steigen, sollen sich vorsehen. Sollte es in Kürze wieder zu einem Verkehrsunfall kommen, der zu verhindern gewesen wäre, wird der Commander dem Captain aufs Dach steigen; und der wird natürlich mir auf den Pelz rücken, was wiederum heißt, daß ich Ihnen gehörig einheizen werde!« Nach kurzem Schweigen meldete sich schließlich Spermwhale Walen zu Wort. »Ich weiß ja inzwischen, daß Scheiße

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