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Die Chorknaben

Die Chorknaben

Titel: Die Chorknaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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ermordet!«
    »Verdammte Scheiße, Francis!« Calvin stieß seinen Partner zur Seite und stürzte mit gezogener Waffe in die Wohnung, um mit der Taschenlampe nach dem Lichtschalter zu suchen.
    Als erstes sah Calvin die Frau. Sie war unglaublich mager und blaß und hatte riesige Augenhöhlen. Sie lag mit dem Rücken auf der Couch, einen Morgenmantel über ihre Hüften gerafft. Ihre Beine waren gespreizt, die Knie angezogen, der Kopf im Todeskampf zurückgeworfen. Die klassische Pose eines vergewaltigten und dann ermordeten Opfers.
    Um ihren Hals war das Antennenkabel geschlungen, und ihr Mund und ihre Augen standen offen. Die toten Augen, noch klar und ungetrübt, starrten auf den oberen Rand der Tür, die zu den zwei Schlafzimmern führte. Von der Tür hing eine Puppe mit blondem Haar herunter; sie war mit einem weiß eingefaßten, roten Abendkleid bekleidet. Das Kleid war oft gewaschen, und das Gesicht der Puppe wirkte alt und abgenutzt. Die Puppe hing am Hals von einem Bademantelgürtel, der mit Klebstreifen am oberen Querbalken der Tür befestigt war. Die Rolle Klebstreifen lag im Durchgang zum Bad auf dem Fußboden.
    Während Calvin sich vornahm, die Rolle Klebstreifen auf Fingerabdrücke untersuchen zu lassen, schreckte ihn Francis aus seinen Gedanken auf, als er hinter ihn trat und sagte: »Die Küche!« Calvin machte zwei Schritte nach links in eine winzige Küche mit einem kleinen, gelben Kühlschrank und einem Herd. Neben der Spüle lag ein blonder, siebenjähriger Junge auf dem Boden. Die Telefonschnur war um seinen Hals gewickelt, und sein Kopf ruhte auf einem Kissen, als hätte es ihm der Mörder bequem machen wollen. Der grüne Samtstoff war feucht von den Körpersäften, die aus dem Mund des Kindes rannen, während es erwürgt wurde. Seine Schlafanzugjacke war hochgeschoben, und man konnte zwei Zigarettenbrandwunden am Rücken und eine am Hals erkennen. Seine Augen waren fester geschlossen, als Calvin das je bei einem Toten gesehen hatte. Als hätte er im Sterben vergeblich nach seiner Mutter geschrien, war sein Gesicht in das grüne Samtkissen gepreßt. »Das Bad!« sagte Francis. Calvin nickte mechanisch und folgte seinem Partner durch den winzigen Wohnraum. An der Tür blieb er kurz stehen, um die Puppe näher zu betrachten. Sie drehte sich leicht zur Seite, als Francis mit der Mütze gegen den Plastikfuß stieß, als er unter ihr hindurchging.
    Francis blickte ins Bad, um noch einmal zu überprüfen, was er bereits gesehen hatte, bevor er Calvin die Tür geöffnet hatte. Dann schaute er noch einmal die Puppe an und wandte sich schließlich Calvin zu.
    Calvin Potts wußte bereits, was ihn im Bad erwarten würde, und sein Herz dröhnte ihm in den Ohren, als Francis das Licht einschaltete und zur Seite trat, um seinem Partner den Blick auf das Kind freizugeben, das an der Stange des Duschvorhangs baumelte.
    Es war das jüngste der drei Kinder – ein Mädchen von vier Jahren, in einem mit Tierfiguren bedruckten Schlafanzug. Es war an zwei aneinandergeknüpften Unterhosen aufgehängt. Die Gerichtsmediziner würden später vermutlich feststellen, daß das kleine Mädchen den langsamsten Tod gestorben war. Calvin wollte gar nicht erst sehen, ob auch sie Verbrennungen hatte. Er wollte das Mädchen nicht berühren. Seine Augen waren wie die seiner Mutter offen. Sein Mund war geschlossen, da der Kopf vornüber auf die Brust gesackt war. Das Kind drehte sich langsam zur Seite, als Francis seinen Fuß berührte.
    »Verdammt noch mal, was soll das denn?«
    »Was?« fragte Francis dämlich. »Laß bloß deine Finger von ihnen!«
    »Was?« wiederholte Francis, ohne bemerkt zu haben, daß er wie zum Trost die kleinen Füße getätschelt hatte, die um die Knöchel mit einem braunen Gürtel zusammengebunden waren und deren Zehen wie die einer Ballerina nach unten zeigten.
    »Los, verschwinden wir hier lieber. Sollen sich die von der Mordkommission um das Ganze kümmern.« Calvin fuhr sich mit dem Handrücken über seine schweißnasse Stirn.
    »Augenblick mal! Wie viele Kinder, hat die Frau gesagt, hat sie gehabt?«
    »Ich weiß nicht mehr genau.«
    »Es waren doch, glaube ich, drei?«
    »Ja, es waren drei.« Francis' Stimme klang belegt.
    »Die Schlafzimmer!« Calvin knipste im ersten das Licht an.
    Dort stand ein Doppelbett, in dem offensichtlich die Frau mit dem kleinsten Mädchen geschlafen hatte. Er atmete schwer, als er in den Kleiderschrank und hinter eine Kiste mit alten Spielsachen sah.
    »Calvin!«

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