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Die Chorknaben

Die Chorknaben

Titel: Die Chorknaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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Bett gebügelt gewesen, wobei er damals noch nicht gewußt hatte, daß sich unterernährte Kinder vor allem durch das Fehlen von Pobacken von lediglich sehr dünnen Kindern unterscheiden. Zu jenem Zeitpunkt hatte Baxter Slate jedoch noch sehr wenig über hungernde Kinder gewußt, zumal er im Gegensatz zu einigen anderen Chorknaben nie im Krieg gewesen war. Daher hatte er auch folgsam den Rückzug angetreten, als Mrs. Rivers ihn aus dem Haus wies. Baxter hatte oft klein beigegeben, und dies vor allem, wenn er allein arbeitete und das Gesetz nur bedingt hinter sich wußte. Er hatte immer geglaubt, daß die Macht der Polizei und der Einfluß des Rechtsprechungssystems ihre Grenzen hatten. Und selbst jetzt, nach einigen Jahren Dienst auf den Straßen, war sein Wille, seine Befugnisse nicht zu überschreiten, noch nicht ganz gebrochen. Das veranlaßte viele seiner Partner zu der Feststellung: »Mit Baxter als Partner läßt sich wirklich gut arbeiten; er macht fast alles mit. Aber zugleich ist er auch noch so naiv, als wäre er in einem Glashaus aufgewachsen.« Zwar war die Wilburn Military Academy nicht unbedingt ein Glashaus, aber doch ein Treibhaus für Kinder der oberen Mittelschicht, zu denen Baxter gehörte, bis seine Mutter dummerweise ihrer üppigen monatlichen Unterhaltszahlungen verlustig ging, weil sie einen Weckerfabrikanten heiratete, der sein Vermögen verlor, indem er es in erfolglose Ölbohrungen vor der Küste Kaliforniens investierte. Die Jahre in dem strengen Dominikanerinternat hatten den Jungen gelehrt, was für Waschlappen die Lehrer in Wilburn waren, die nur so taten, als wären sie Soldaten. Da hatte Gottes Armee schon wesentlich energischere Generäle vorzuweisen, die sich ihrer Sache eindeutig mehr verpflichtet fühlten. Es war höchst verwunderlich, daß sich ein Junge, der so viel herumkommandiert worden war und andererseits eine im traditionellen Sinn so hervorragende Ausbildung genossen hatte – dabei war er praktisch völlig getrennt von seinen Eltern aufgewachsen, wenn man von den Ferien absieht, die er mit Mami verbrachte –, daß nun aus diesem Jungen ausgerechnet ein Polizist wurde, der sich über Menschenrechte und die Befugnisse eines Polizisten Gedanken machte. Schließlich waren ihm selbst diese Rechte ständig verwehrt worden. Aber er machte sich trotzdem solcher Dinge wegen Gedanken. Und nicht gerade wenige. Und dies auch dann noch, als er zu der Überzeugung gelangt war, daß es idiotisch war, sich über derlei Kram den Kopf zu zerbrechen. Als Baxter Slate noch allein im West-Adams-Bezirk gearbeitet hatte, sah er einen Wagen vorbeifahren, aus dessen Rückfensterverzweifelt zwei Kinder winkten, um im nächsten Augenblick auf dem Rücksitz niederzusinken und seinen Blicken zu entschwinden. Der Fahrer war ein Schwarzer mit einem breitkrempigen Hut. Baxter folgte dem Wagen ganze zwei Meilen, um noch einmal einen Blick auf die zwei Kinder zu erhaschen, wobei er sich selbst die Frage stellte, ob er dem Wagen auch gefolgt wäre, wenn der Fahrer ein Weißer gewesen wäre, und ob es sich bei dem Ganzen vielleicht nur um einen Streich von Seiten der Kinder handelte. Schließlich schaltete Baxter sein Rotlicht ein und hielt den Wagen an. Die Kinder hatten sich kichernd auf dem Rücksitz niedergekauert. Und der Fahrer, ein Bekannter der Mutter der beiden Fratzen, wollte wütend wissen: »Hätten Sie mich auch angehalten, wenn es schwarze Kinder gewesen wären?« Baxter hatte darauf geantwortet, daß er es auch dann getan hätte; aber er wußte, daß dies eine Lüge war, und er sollte diesen Vorfall nie vergessen. Zwei Wochen, bevor Tommy Rivers starb, erhielt Baxter Slate zum zweiten Mal einen Funkspruch, zum Haus von Lena Rivers zu kommen. Diesmal hatte eine Nachbarin auf der anderen Straßenseite Verdacht geschöpft. Sie meldete der Zentrale, daß mit der Frau ganz bestimmt etwas nicht in Ordnung sei. Tommy lebte nun schon seit neun Monaten bei seiner Mutter, war aber nur ganz selten vor dem Haus zu sehen, wenn er mit einem Bruder oder einer Schwester im Garten saß.
    »Ich glaube, daß der Junge krank ist«, hatte die Nachbarin erklärt.
    Und dieses Mal überschritt Baxter auch tatsächlich seine Befugnisse, indem er mit Nachdruck verlangte, Tommy sehen zu dürfen, da er ansonsten gezwungen wäre, die Leute von der Jugendpolizei zu verständigen.
    Lena Rivers erklärte sich schließlich einverstanden, und dann ging die hagere, junge Frau mit den stechenden Augen ins Schlafzimmer und

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