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Die Chorknaben

Die Chorknaben

Titel: Die Chorknaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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kam mit einem schmutzigen, aber offensichtlich wohlgenährten und gesunden Kind von sieben Jahren zurück, das den Polizisten anlächelte und dessen Pistole anfassen wollte.
    »Zufrieden?« meinte Lena Rivers. »Diese neugierigen Nachbarn sollten sich lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Baxter Slate sah Lena Rivers an, ihren zerzausten, farblosen Pferdeschwanz und die blinzelnden Augen mit den Schatten darunter, das Gesicht, das bereits vom Alkohol aufgedunsen war, obwohl die Frau sonst noch sehr jugendlich wirkte und sehr schlank war.
    »Der Junge sieht aber ziemlich anders aus als das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe«, meinte Baxter Slate.
    »Wann haben Sie ihn gesehen?« lallte Lena Rivers, und Baxter konnte ihre Fahne riechen.
    »Ich wurde schon einmal hierher gerufen«, gab Baxter nicht nach. Er blieb in der Tür stehen. »Sie haben mich damals ins Schlafzimmer geführt, damit ich mir Tommy ansehen konnte. Wissen Sie das nicht mehr?«
    »Ach ja, stimmt. Und Sie scheinen offensichtlich nichts Besseres zu tun zu haben, als mich zu nerven, was?«
    »Das würde ich nicht unbedingt sagen.« Alles, was er in seinen vier Jahren bei der Polizei gelernt hatte, sagte ihm, daß diese Frau log. Eine der Erkenntnisse, die einem Polizisten vielleicht am wenigsten in den Kopf wollen, ist die Tatsache, daß die meisten Menschen überzeugte Lügner sind. Und gerade Baxter hatte damit Schwierigkeiten, da er doch mit der Überzeugung groß geworden war, es gäbe so etwas wie die Wahrheit, und die meisten Menschen würden sich auch noch daran halten.
    »Ist das derselbe Junge, den ich schon früher gesehen habe?« fragte Baxter und war überzeugt, daß sie log, als sie sagte:
    »Natürlich ist das derselbe Junge!«
    »Wie heißt du denn, Kleiner?« wandte sich Baxter lächelnd an den Jungen.
    »Tommy Rivers«, antwortete der Junge und blickte zu seiner Mutter auf.
    »Ich glaube einfach nicht, daß das derselbe Junge ist, den ich damals gesehen habe. Der war nämlich sehr, sehr dünn.«
    »Er hat eben ein paar Pfund zugenommen. Er war krank. Hat Ihnen meine neugierige Nachbarin denn nicht erzählt, daß er krank war?« Und Baxter Slate nickte, da die neugierige Nachbarin das tatsächlich gesagt hatte; aber trotzdem …
    »Jetzt hören Sie mal.« Baxter versuchte sein breitestes, gewinnendstes Lächeln. »Das ist nun schon das zweite Mal, daß ich zu Ihrem Haus gerufen werde. Jetzt lassen Sie mich mal kurz rein, damit ich mich ein bißchen umsehen kann. Dann werden alle zufrieden sein, und Sie werden mich hier nicht mehr sehen. Einverstanden?« Daraufhin trat die Frau auf die Veranda heraus, so daß Baxter sie nicht mehr nur durch das Fliegengitter vor der Tür sah und jetzt auch die gelblichen Tränensäcke unter ihren irr funkelnden Augen erkennen konnte.
    »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Sie haben kein Recht, hier rumzustehen, und ich verlange, daß Sie auf der Stelle verschwinden. Haben Sie gehört? In meinem Haus blitzt vielleicht nicht alles vor Sauberkeit, na und? Wen geht das was an? Jedenfalls kümmere ich mich um meine Kinder, und hier sehen Sie ja selbst den Jungen, dessentwegen Sie sich Gedanken machen. Und jetzt gehen Sie zu dieser blöden Ziege rüber und fragen Sie sie, ob sie noch irgendwelche Beschwerden hat, sonst werde ich es ihr persönlich sagen und ihr dabei ein paarmal kräftig in den Arsch treten!« Lena Rivers ging ins Haus zurück und warf die Tür krachend hinter sich zu, so daß Baxter Slate unschlüssig allein auf der Veranda zurückblieb.
    Noch Monate später fragte sich Baxter, inwieweit sein Zögern auf seine Internatshöflichkeit zurückzuführen gewesen war, und ob die besten Polizisten nicht vielleicht doch aus der in dieser Hinsicht weniger feinfühligen Arbeiterklasse kamen, und ob es vielleicht von der Polizeidirektion nicht doch höchst unklug war, Polizisten aus anderen Gesellschaftsschichten zu rekrutieren.
    Aber ganz gleich, wie oft er mit Kollegen über den Vorfall in Form einer hypothetischen Situation sprach, wobei er nie zuzugeben wagte, daß er tatsächlich zum Haus von Tommy Rivers gerufen worden war, er gelangte immer wieder zu demselben, unausweichlichen Schluß, daß nur die wenigsten auf der Veranda stehengeblieben wären. Zögernd wie Hamlet. Um sich dann den Schweiß von der Stirn zu wischen und weiterzufahren.
    Die Antworten auf seine hypothetischen Fragen variierten geringfügig: »Ich glaube, ich hätte Verstärkung angefordert oder vielleicht auch einen

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