Die Chronik der Drachenlanze 1 + 2
Luft, die vor Spannung knisterte wie vor einem Sturm. Und als Tanis durch die Straßen von Qualinost lief, sah er Dinge, die er nie zuvor in seiner Heimat gesehen hatte. Er sah Eile. Er sah Hast. Er sah Unentschlossenheit. Er sah Panik, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.
Frauen, die einander trafen, umarmten sich und weinten, dann trennten sie sich und eilten auf verschiedenen Wegen weiter. Kinder saßen verloren da, verstanden nicht, wußten nur, daß Spielen nicht passend war. Männer versammelten sich in Gruppen, die Hand am Schwert, und hielten ein wachsames Auge auf ihre Familien. Hier und dort brannten Feuer. Die Elfen vernichteten alles, was sie liebten und doch nicht mitnehmen konnten, um es nicht der kommenden Dunkelheit anheimfallen zu lassen.
Tanis hatte um die Zerstörung von Solace getrauert, aber der
Anblick dessen, was in Qualinost geschah, drang in seine Seele wie die Klinge eines stumpfen Messers. Er hatte nicht gewußt, was ihm das alles bedeutete. Er hatte gewußt, tief in seinem Herzen, daß Qualinost immer da sein würde, selbst wenn er nie zurückkehren würde. Und nun sollte er selbst das verlieren. Qualinost würde untergehen.
Tanis hörte ein seltsames Geräusch, er wandte sich um und sah den alten Magier weinen.
»Was für Pläne habt ihr? Wohin wollt ihr gehen? Könnt ihr entkommen?« fragte Tanis Gilthanas düster.
»Du wirst die Antworten auf diese Fragen und noch mehr bald bekommen, zu bald, zu bald«, murmelte Gilthanas.
Der Sonnenturm überragte hoch die anderen Gebäude in Qualinost. Das sich in der goldenen Oberfläche reflektierende Sonnenlicht schuf die Illusion von wirbelnder Bewegung. Die Gefährten betraten schweigend den Turm, von Ehrfurcht ergriffen über die Schönheit und Erhabenheit des uralten Gebäudes. Nur Raistlin sah sich unbeeindruckt um. Für seine Augen gab es keine Schönheit, nurTod.
Gilthanas führte die Gefährten zu einer kleinen Nische. »Wir befinden uns direkt vor dem Hauptsaal«, erklärte er. »Mein Vater trifft sich mit den Familienoberhäuptern, um die Evakuierung zu besprechen. Mein Bruder ist vorgegangen, um ihm unsere Ankunft mitzuteilen. Wenn sie fertig sind, werden wir hineingerufen.«Auf sein Zeichen erschienen Elfen mit Krügen und Schüsseln mit kühlem Wasser. »Bitte, erfrischt euch, solange noch Zeit ist.«
Die Gefährten tranken, dann wuschen sie sich den Reisestaub von Gesicht und Händen. Sturm legte seinen Umhang ab und polierte sorgfältig seine Rüstung mit einem von Tolpans Taschentüchern. Goldmond bürstete ihr glänzendes Haar, behielt aber ihren Umhang an. Sie und Tanis hatten entschieden, das Amulett von Mishakal zu verbergen, bis die Zeit gekommen war, es zu enthüllen. Sie befürchteten, einige könnten es wiedererkennen. Fizban versuchte ohne viel Erfolg, seinen zerbeulten
Hut zu richten. Caramon sah sich nach Eßbarem um. Gilthanas stand abseits von ihnen, sein Gesicht war blaß und verkrampft.
Kurz darauf erschien Porthios im gewölbtenTüreingang. »Ihr seid aufgerufen«, sagte er ernst.
Die Gefährten betraten den Saal der Stimme der Sonnen. Seit Jahrhunderten hatte kein Mensch das Innere dieses Gebäudes gesehen. Ein Kender gar hatte es noch nie gesehen. Die letzten Zwerge, die ihn gesehen hatten, waren jene, die zur Bauzeit anwesend waren, und das war vor vielen hundert Jahren gewesen.
»Ah, das ist wahre Kunstfertigkeit«, sagte Flint. In seinen Augen schimmerten Tränen.
Der Saal war rund und viel größer, als man von draußen hätte vermuten können. Er war völlig aus weißem Marmor gebaut und wurde weder von Balken noch von Säulen getragen. Der Raum erhob sich einige hundert Meter nach oben und bildete an der Turmspitze eine Kuppel, in der ein wunderschönes Mosaik aus eingelegten glitzernden Kacheln auf der einen Seite den blauen Himmel und die Sonne, auf der anderen den silbernen Mond, den roten Mond und die Sterne darstellte; die Hälften waren durch einen Regenbogen getrennt.
Im Saal gab es keine Lampen. Geschickt gebaute Fenster und Spiegel reflektierten das Sonnenlicht in den Raum, egal, wo sich die Sonne befand. Die Sonnenstrahlen liefen in der Mitte des Raumes zusammen und beleuchteten ein Podium.
Sitzmöglichkeiten waren im Turm nicht vorhanden. Die Elfen standen – Männer und Frauen: Nur die Familienoberhäupter hatten das Recht, an der Versammlung teilzunehmen. Es waren viel mehr Frauen anwesend als früher, wie Tanis sich erinnern konnte; viele waren in Dunkelrosa gekleidet, die
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