Die Chronik der Drachenlanze 1 + 2
aber ging Goldmond hinterher, und die anderen folgten.
Der Ritter ließ die Trampelpfade zum Betenden Gipfel links liegen und bewegte sich in südwestlicher Richtung den Abhang hoch. Zuerst schien es, als hätte Caramon recht gehabt – es gab dort keinen Pfad. Sturm kämpfte sich wie ein Wahnsinniger durch das Gebüsch. Dann plötzlich öffnete sich vor ihnen ein ebener, breiterWeg.Tanis starrte ihn erstaunt an.
»Wer oder was könnte diesen Pfad angelegt haben?« fragte er Flußwind, der ebenfalls etwas verwirrt dreinschaute.
»Ich weiß es nicht«, sagte der Barbar. »Er ist alt. Dieser umgestürzte Baum da liegt schon lange hier, denn er ist zur Hälfte im Sand versunken und mit Moos und Schlingpflanzen bewachsen. Aber es gibt keine Spuren – nur die von Sturm. Es gibt keinerlei Zeichen dafür, daß hier Menschen oder Tiere durchgegangen wären.Aber warum ist er dann nicht überwachsen?«
Tanis blieb weder Zeit, eine Antwort zu geben, noch darüber nachzudenken. Sturm kämpfte sich geschwind voran, und die anderen mußten sich ranhalten, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
»Goblins, Boote, Echsenmenschen, unsichtbare weiße Hirsche – was kommt wohl als nächstes?« beklagte sich Flint beim Kender.
»Ich wünschte, ich könnte den Hirsch sehen«, sagte Tolpan sehnsüchtig.
Die Gefährten folgten Sturm, der mit wilder Begeisterung weiterkletterte. Verletzung und Schmerzen waren vergessen. Tanis hatte seine Schwierigkeiten, den Ritter einzuholen.Als es ihm gelang, war er über den fiebrigen Glanz in Sturms Augen beunruhigt.Aber der Ritter wurde offenbar von etwas geleitet. Der Pfad führte sie nach oben zum Betenden Gipfel.Tanis sah, daß er sie zu der Spalte zwischen den »Händen« aus Stein lenkte. Soweit er wußte, hatte diesen Spalt niemals zuvor jemand betreten.
»Wartet einen Moment«, keuchte er und heftete sich wieder
an Sturms Fersen. Es war fast Mittag, vermutete er, obwohl die Sonne immer noch hinter den ausgefransten grauen Wolken verborgen war. »Laßt uns ausruhen. Ich werde mir von dort oben einen Ausblick verschaffen.« Er zeigte auf einen Felssims, der seitlich des Gipfels vorsprang.
»Ausruhen ...«, wiederholte Sturm geistesabwesend, hielt an und holte Atem. Er starrte einen Moment nach vorn, dann wandte er sich Tanis zu. »Ja. Laßt uns ausruhen.« Seine Augen leuchteten.
»Geht es dir gut?«
»Ja«, sagte Sturm geistesabwesend, schritt umher und strich sanft an seinem Schnurrbart. Tanis beobachtete ihn einen Moment unentschlossen, dann ging er zu den anderen zurück, die gerade über den Kamm einer kleinenAnhöhe kamen.
»Wir werden uns hier ausruhen«, sagte der Halb-Elf. Raistlin atmete erleichtert auf und ließ sich ins nasse Laub fallen.
»Ich werde mich weiter oben umsehen«, fügteTanis hinzu.
»Ich komme mit dir«, bot Flußwind an.
Tanis nickte, und die beiden verließen den Pfad und steuerten auf den Felssims zu. Tanis sah kurz zu dem hochgewachsenen Krieger. Er fing an, sich bei dem finsteren, ernsten Barbaren wohl zu fühlen. Flußwind respektierte die Privatsphäre der anderen und würde niemals daran denken, die Grenzen zu testen, die Tanis in seiner Seele aufgestellt hatte. Dies war für den Halb-Elf genauso wohltuend wie eine durchschlafene Nacht. Er wußte, daß seine Freunde – einfach weil sie seine Freunde waren und ihn nun seit Jahren kannten – sich Gedanken über seine Beziehung zu Kitiara machten. Warum hatte er sich entschieden, diese Beziehung vor fünf Jahren abrupt abzubrechen? Und warum war er so enttäuscht, als sie nicht zum Treffen erschienen war? Flußwind wußte natürlich nichts über Kitiara, aber Tanis hatte das Gefühl, auch wenn er Bescheid wüßte, wäre es einerlei: es warTanis’Angelegenheit und nicht seine.
Als sie in Sichtweite der Haven-Straße gelangten, krochen sie die letzten Meter und schoben sich Zentimeter für Zentimeter auf dem nassen Gestein vorwärts, bis sie den Rand des Felsüberhangs
erreichten.Tanis sah nach unten und nach Osten und konnte die alten Ausflugspfade erkennen. Flußwind machte ihm Zeichen, und Tanis stellte fest, daß sich Kreaturen auf den Ausflugspfaden bewegten. Das erklärte die unheimliche Stille im Wald! Tanis preßte grimmig seine Lippen zusammen. Die Kreaturen warteten wohl, um sie aus dem Hinterhalt zu überfallen. Wie es aussah, hatten Sturm und sein weißer Hirsch ihnen das Leben gerettet. Aber es würde nicht lange dauern, bis die Schreckenswesen den neuen Pfad entdeckten. Tanis
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