Die Chronik der Drachenlanze 1 + 2
aber schnell wieder. Huma hatte Drachen bekämpft. Gebt mir Drachen, träumte Sturm. Er schaute auf. Die Blätter verschwammen zu einem goldenen Nebel, und er wußte, er würde gleich ohnmächtig werden. Dann blinzelte er. Plötzlich sah er alles scharf und überdeutlich.
Vor ihm erhob sich der Betende Gipfel. Sie hatten den Fuß des alten Gletschergebirges erreicht. Er konnte Pfade sehen, die sich an den bewaldeten Hängen hochschlängelten, von den
Bewohnern Solace’ benutzte Wege, um Ausflugsplätze an der Ostseite des Gebirges aufzusuchen. Neben einem der Pfade stand ein weißer Hirsch. Sturm erstarrte. Noch nie hatte der Ritter ein so wundervolles Tier gesehen. Stolz hielt es seinen Kopf hoch, sein prachtvolles Geweih glänzte wie eine Krone. Seine tief braunen Augen standen im Kontrast zum schneeweißen Fell des Hirsches, und er blickte aufmerksam zum Ritter herüber, als würde er ihn kennen. Dann machte er eine leichte Kopfbewegung und sprang in südwestlicher Richtung fort.
»Halt!« rief der Ritter heiser.
Die anderen wirbelten beunruhigt herum und zogen ihre Waffen.Tanis kam auf ihn zugerannt. »Was ist los, Sturm?«
Der Ritter legte unwillkürlich eine Hand auf seinen schmerzenden Kopf.
»Tut mir leid, Sturm«, sagte Tanis. »Mir war nicht klar, daß es dir so schlecht geht. Wir können uns ausruhen. Wir sind nun am Fuß des Betenden Gipfels. Ich werde hochsteigen und sehen ...«
»Nein! Sieh doch!« Der Ritter faßte nach Tanis’ Schulter, drehte ihn herum und zeigte nach oben. »Siehst du? Der weiße Hirsch!«
»Der weiße Hirsch?« Tanis starrte in die Richtung, in die der Ritter deutete. »Wo? Ich ...«
»Dort«, sagte Sturm leise. Er ging ein paar Schritte weiter, auf das Tier zu, das angehalten hatte und auf ihn zu warten schien. Der Hirsch nickte mit seinem riesigen Kopf. Wieder sprang er fort, nur ein paar Schritte, dann wandte er sich wieder dem Ritter zu. »Er will, daß wir ihm folgen«, keuchte Sturm. »Wie einst Huma!«
Die anderen hatten sich inzwischen um den Ritter versammelt und bedachten ihn mit Blicken, die von tief besorgt bis zweifelnd reichten.
»Ich sehe keinen Hirsch«, sagte Flußwind, dessen dunkleAugen den Wald absuchten.
»Kopfwunde.« Caramon nickte wie ein hinterlistiger Kleriker. »Sturm, leg dich hin und ruh dich aus...«
»Du großer verdammter Narr!« fauchte der Ritter Caramon an. »Mit deinem Gehirn im Bauch ist es klar, daß du den Hirsch nicht siehst. Und wenn, würdest du ihn wahrscheinlich töten und braten! Ich sage euch – wir müssen ihm folgen!«
»Der Irrsinn bei Kopfwunden«, flüsterte Flußwind Tanis zu. »Das habe ich schon oft erlebt.«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Tanis. Er schwieg einige Augenblicke. Dann erklärte er, offensichtlich widerstrebend: »Obwohl ich den weißen Hirsch nicht gesehen habe, war ich mal mit jemandem zusammen, der ihn gesehen hatte, und wir sind ihm gefolgt wie in der Geschichte des alten Mannes.« Seine Hand streifte unwillkürlich den Ring an seiner linken Hand, seine Gedanken waren bei dem goldhaarigen Elfenmädchen, das geweint hatte, als er Qualinesti verlassen hatte.
»Du schlägst also vor, einem Tier zu folgen, das wir nicht einmal sehen können?« fragte Caramon mit offenem Mund.
»Es wäre nicht unsere seltsamste Tat«, kommentierte Raistlin sarkastisch mit flüsternder Stimme. »Obwohl wir nicht vergessen sollten, daß es der alte Mann war, der die Geschichte mit dem weißen Hirsch erzählt hat, und der alte Mann war es, der uns in diese...«
»Es war unsere eigene Entscheidung, die uns in diese Geschichte brachte«, sagte Tanis. »Wir hätten auch dem Obersten Theokraten den Stab überreichen und uns aus der mißlichen Lage reden können. Ich meine, wir sollten Sturm folgen. Offenbar wurde er auserwählt, so wie Flußwind auserwählt wurde, den Stab zu tragen...«
»Aber er führt uns nicht einmal in unsere Richtung!« argumentierte Caramon. »Du weißt genausogut wie ich, daß es durch den westlichen Teil des Waldes keinen Pfad gibt. Niemand ist dort je gewesen!«
»Um so besser«, ließ sich plötzlich Goldmond vernehmen. »Tanis sagte, daß die Kreaturen vermutlich alle Wege blockiert haben. Vielleicht ist dies ein Ausweg. Ich denke auch, wir sollten dem Ritter folgen.« Sie wandte sich um und machte sich mit Sturm auf den Weg. Sie sah nicht einmal zu den anderen zurück
– offenbar gewöhnt, daß man ihr gehorchte. Flußwind zuckte die Schultern und schüttelte finster den Kopf,
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