Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
Verstehst du nicht? Er hat gesagt, Sie ruft mich. Es ist die Stimme seiner Schwester! Er kann hören, wie sie ihn ruft. Darum ist er durchgedreht.«
»Ja ...«, sagte Caramon benommen und starrte weiter in den Korridor. Er hörte die Drakonier die Wendeltreppe hinunterrennen, Rüstungen klappern und Schwerter an den Felswänden entlangkratzen. Ihnen blieben nur noch Sekunden. »Komm...«
Tika griff Caramon am Arm. Sie grub ihre Nägel tief in sein Fleisch, so daß er sie ansehen mußte, ihre roten Locken leuchteten wie eine Flamme im flackernden Fackelschein.
»Nein!« sagte sie mit fester Stimme. »Sie werden ihn sicher einfangen, und das wird das Ende sein! Ich habe einen Plan. Wir müssen uns aufteilen. Tolpan und ich werden sie zurückhalten. Wir verschaffen dir einen Vorsprung. Es wird alles gut, Caramon«, bestand sie hartnäckig, als sie sein Kopfschütteln sah. »Es gibt noch einen anderen Korridor, der nach Osten führt. Ich habe ihn gesehen, als wir hierher gebracht wurden. Sie werden uns dorthin verfolgen. Jetzt beeil dich, bevor sie dich sehen!«
Caramon zögerte, sein Gesicht verzerrte sich vor Qual.
»Das ist das Ende, Caramon!« sagte Tika. »Zum Guten oder zum Bösen. Du mußt mit ihm gehen! Du mußt ihm helfen, zu ihr zu kommen! Beeil dich, Caramon! Du bist der einzige, der stark genug ist, um ihn zu beschützen. Er braucht dich!«
Tika schob den großen Mann nach vorn. Caramon machte einen Schritt, dann drehte er sich zu ihr um.
»Tika ...«, begann er, versuchte, einen Einwand gegen diesen verrückten Plan zu finden. Aber bevor er weiterreden konnte, küßte Tika ihn schnell, nahm das Schwert eines toten Drakoniers und rannte aus der Gefängniszelle.
»Ich passe auf sie auf, Caramon!« versprach Tolpan und stürzte ihr nach, seine Beutel hüpften dabei wild auf und ab.
Caramon starrte ihnen einen Augenblick nach. Der Hobgoblinwärter kreischte vor Entsetzen auf, als Tika direkt auf ihn zurannte und dabei drohend ihr Schwert schwang. Der Wärter griff hektisch nach ihr, aber Tika hackte so wild und verzweifelt auf ihn ein, daß der Hobgoblin mit einem gurgelnden Schrei und durchschnittener Kehle tot umfiel.
Den Körper zu ihren Füßen ignorierend, eilte Tika weiter den Korridor in östlicher Richtung entlang.
Tolpan, direkt hinter ihr, blieb einen Moment an der Treppe stehen. Er sah nun die Drakonier, und Caramon konnte die schrille Stimme des Kenders hören, die die Wachen verspottete.
»Hundefresser! Schleimblutige Goblinliebhaber!«
Dann flitzte Tolpan hinter Tika her, die aus Caramons Gesichtsfeld verschwunden war.
Die aufgebrachten Drakonier – angestachelt durch die Verwünschungen des Kenders und den Anblick der fliehenden Gefangenen – nahmen sich nicht die Zeit, in eine andere Richtung zu sehen. Sie verfolgten den leichtfüßigen Kender, ihre Krummschwerter glänzten, ihre langen Zungen zuckten in Vorfreude auf das Töten.
Binnen kurzem war Caramon mutterseelenallein. Er zögerte eine weitere kostbare Minute und starrte in die düsteren Zellen. Er konnte nichts sehen. Er konnte nur noch Tolpan Hundefresser schreien hören. Dann war alles ruhig.
»Ich bin allein...«, dachte Caramon düster. »Ich habe alle verloren – alle verloren. Ich muß ihnen folgen.«
Er starrte zur Treppe, dann hielt er inne. »Nein, Berem ist da.
Er ist auch allein. Tika hat recht. Er braucht mich jetzt. Er braucht mich.«
Caramon, der endlich wieder klar denken konnte, drehte sich um und lief schwerfällig in den nördlichen Korridor auf der Suche nach Berem.
D rachenfürst Toede.«
Lord Ariakus lauschte mit träger Verachtung dem Aufrufen der Rangbezeichnungen. Nicht, daß ihn das Verfahren langweilte. Ganz im Gegenteil. Die Einberufung des Kriegsrats war zwar nicht seine Idee gewesen. In der Tat hatte er Einspruch dagegen erhoben. Aber er hatte darauf geachtet, nicht allzu heftig Einspruch zu erheben. Das hätte ihn schwach erscheinen lassen; und Ihre Dunkle Majestät ließ Schwächlinge nicht am Leben. Nein, dieser Kriegsrat würde alles andere als langweilig werden...
Bei dem Gedanken an seine Dunkle Königin drehte er sich halb und blickte schnell zur Nische hoch. Ihr prächtiger Thron, der größte und wunderbarste in der ganzen Halle, war immer noch leer, das Tor war in der lebendigen, atmenden Dunkelheit nicht sichtbar. Keine Stufen führten zu diesem Thron. Das Tor war gleichzeitig Eingang und Ausgang. Und wohin das Tor führte, nun, es war besser, nicht daran zu denken.
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