Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
nahm an Intensität zu, bis ihre Schwärze eine kalte Leere des Nichts in dem Granitsaal zu schaffen schien. Unfähig wegzusehen, war Tanis gezwungen, in diese fürchterliche Leere zu schauen, bis er das beängstigende Gefühl hatte, hineingezogen zu werden. In dem Moment vernahm er eine Stimme in seinem Bewußtsein.
Wir haben euch nicht zusammenge führt, um mitanzusehen, wie eure kleinlichen Streitereien und noch kleinlicheren Ambitionen den Sieg beeinträchtigen, der, wie wir spüren, immer näher kommt. Vergiß nicht, wer hier herrscht, Lord Ariakus!
Ariakus sank wie die anderen im Saal auf die Knie. Tanis fand sich selbst in Ehrerbietung auf die Knie fallend wieder. Er
konnte nicht anders. Obwohl er von Abscheu und Haß erfüllt war über dieses leidbringende, entsetzliche Böse, so war es doch eine Göttin, eine, die an der Entstehung der Welt mitgewirkt hatte. Seit Beginn der Zeit herrschte sie – und sie würde bis zum Ende der Zeit herrschen.
Die Stimme sprach weiter, brannte sich in sein Bewußtsein und in das Bewußtsein aller Anwesenden.
Fürstin Kitiara, du hast uns in der Vergangenheit sehr zufriedengestellt. Dein Geschenk an uns stellt uns noch zufriedener. Bring mir die Elfenfrau, daß wir sie uns ansehen und über ihr Schicksal entscheiden.
Tanis beobachtete Lord Ariakus, der zu seinem Thron zurückkehrte, aber nicht ohne Kitiara einen giftigen, haßerfüllten Blick zuzuwerfen.
»Das werde ich, Eure Dunkle Majestät.« Kitiara verbeugte sich und befahl Tanis, ihr zu folgen, als sie an ihm vorbeiging.
Ihre Drakoniersoldaten traten zurück, um ihr einen Weg zu bahnen. Kitiara stieg die rippenähnlichen Stufen der Plattform hinab, gefolgt von Tanis. Die Soldaten teilten sich, um sie durchzulassen, dann schlossen sich die Reihen gleich wieder.
Als Kitiara die Mitte des Saales erreichte, ging sie eine schmale Treppe hoch, deren Stufen wie Stacheln aus dem Rücken der Schlange hervortraten, bis sie mitten auf der marmornen Plattform stand.Tanis folgte langsamer, die Stufen waren schmal und schwer zu besteigen, besonders da er die Augen der dunklen Form in der Nische auf seiner Seele ruhen spürte.
Kitiara drehte sich um und machte eine Handbewegung zum verzierten Tor am anderen Ende der schmalen Brücke, die die Plattform mit den Hauptwänden der Empfangshalle verband.
Eine Gestalt erschien in derTür – eine dunkle Gestalt, gekleidet in die Rüstung eines solamnischen Ritters. Fürst Soth betrat die Halle, und bei seinem Kommen wichen die Soldaten auf beiden Seiten der schmalen Brücke zurück, als ob eine Hand aus dem Grab griff und sie wegstieß. In seinen bleichen Armen trug Fürst Soth einen Körper, der in weißes Tuch gewickelt war. Das Schweigen im Saal war so intensiv, daß man die Fußtritte
des toten Ritters auf dem Marmorboden hören konnte, obwohl alle den Stein durch den durchsichtigen, fleischlosen Körper sehen konnten.
Fürst Soth überquerte mit seiner weißumhüllten Last die Brücke und ging langsam weiter, bis er zum Kopf der Schlange gelangte. Auf eine weitere Handbewegung von Kitiara legte er das Bündel vor den Füßen der Drachenfürstin auf den Boden. Dann erhob er sich und verschwand plötzlich, ließ alle vor Entsetzen blinzeln und sich fragen, ob er wirklich dagewesen oder nur ein Trugbild ihrer überhitzten Fantasien gewesen war.
Tanis konnte Kitiara unter ihrem Helm lächeln sehen, amüsiert über die Wirkung, die ihr Diener hervorgerufen hatte. Dann zog sie ihr Schwert und beugte sich, um die ersten Bänder zu durchtrennen, in die die Gestalt wie in einen Kokon eingewickelt war. Dann trat sie zurück und beobachtete, wie ihre Gefangene in dem Netz kämpfte.
Tanis erblickte eine Woge von verheddertem, honigfarbenem Haar, das Aufblitzen einer Silberrüstung. Hustend, fast erstickt durch die einschnürenden Bänder, kämpfte sich Laurana aus dem weißen Stoff frei. Verkrampftes Gelächter der Soldaten begleitete die schwachen, zappelnden Bewegungen der Gefangenen – dies war offenbar ein Hinweis auf weitere Belustigungen. Instinktiv trat Tanis einen Schritt vor, um Laurana zu helfen. Dann spürte er, daß Kitiaras braune Augen auf ihm ruhten, ihn beobachteten, ihn daran erinnerten ...
Wenn du stirbst – stirbt auch sie!
Sein Körper erbebte vor Eiseskälte. Der Halb-Elf hielt inne, dann trat er zurück. Schließlich taumelte Laurana benommen auf die Füße. Einen Moment lang blickte sie sich wirr um, blinzelte im flackernden Fackelschein. Ihr Blick
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