Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
»Torak!«
Es war hoffnungslos.
Ein plötzlicher Lichtblitz – und aus der Stecheiche spähte ein Gesicht zu ihr herab. Haare aus Eiskristallen. Tückisch glitzernde Augen.
Renn kreischte entsetzt auf.
Lautes Donnergedröhn.
Das Tokoroth sprang in die Dunkelheit.
Die Stecheiche ächzte auf, dann spaltete sich ihr Stamm in der Mitte.
Renn wich einen Augenblick zu spät aus. Ein Ast fiel quer über ihre Wade und drückte sie an den Boden.
Verzweifelt versuchte sie, sich zu befeien, aber der Ast hielt sie erbarmungslos fest. Die Axt hatte sie im Unterschlupf zurückgelassen. Sie hackte mit dem Messer auf den Ast ein, aber das gefrorene Holz war hart wie Stein. Ihre Klinge rutschte ab. In panischer Angst versuchte Renn, die Erde unter ihrem Bein wegzuscharren. Auch sie war steinhart gefroren.
Sie spürte, wie das Eis auf ihr schwerer wurde, sie zu Boden drückte, ihr das Leben aus den Knochen sog.
»Torak«, schrie sie gellend. »Torak.«
Der tosende Wind trug ihre Stimme in die Nacht davon.
Kapitel 9
Der Hang unterhalb von Torak sah aus, als seien die Baumstämme von einer Flutwelle übereinandergeschleudert worden. Ein falscher Schritt und alles konnte ins Rutschen und Rollen geraten.
Seit einer halben Ewigkeit suchte er schon vergeblich nach der Fährte seines Rudelgefährten und jetzt kam er nicht einmal den Hügel hinab. Vermutlich war Wolf leichtfüßig über die Stämme hinweggesetzt; er selbst würde dadurch eine Holzlawine auslösen.
»Du Dummkopf«, murmelte er. Vor einer Weile war er an einem guten Lagerplatz vorbeigekommen, eine flache Stelle unter einer großen Stecheiche, aber in seiner Versessenheit, Wolf zu finden, war er einfach stur weitergelaufen. Seltsamerweise hatte er schon in jenem Augenblick gewusst, dass er einen Fehler beging. Trotzdem war er nicht umgekehrt.
Der Wind zerrte an seiner Kapuze und schleuderte ihm Äste entgegen. Die Bäumen riefen ihm eine Warnung zu: Beeil dich, bring dich in Sicherheit!
Rip landete so wuchtig auf Toraks Schulter, dass der Junge taumelte.
Krah!, krächzte er. Er sah arg zerzaust aus. Wie lange mochte das Rabenpaar die Adlereule wohl verfolgt haben?
Rip schwang sich erneut in die Luft und flog den Hügel hinauf.
Aber von daher war Torak doch gekommen … Wollte ihm der Rabe etwa zu verstehen geben, dass er zu dem Lagerplatz zurückkehren sollte, solange es noch nicht zu spät dafür war?
Krah! Komm mit!
Torak folgte ihm.
In dem trüben Licht konnte er kaum etwas erkennen. Während er durchs Unterholz brach, erhaschte er gelegentlich einen Blick auf Rips weiße Schwanzfeder. Dann entließen die Wolken den Hagel.
Aber das ist ja gar kein Hagel, dachte er, das ist gefrorener Regen. Torak, du steckst mitten in einem Eissturm!
Vornübergebeugt kämpfte er sich den Hang hinauf. Viel weiter würde er nicht mehr kommen. Er musste eine Mulde unter einem Felsen finden, irgendeine geschützte Stelle, wo er das Ende des Sturms abwarten konnte.
Er hätte den Unterschlupf glatt übersehen, wenn Rip nicht auf dem Dach gehockt hätte.
Ein Unterschlupf? Torak traute seinen Augen kaum. Er erkannte den flachen Lagerplatz wieder, obwohl er jetzt ganz anders aussah. Die Stecheiche war umgestürzt. Vorhin war hier kein Unterschlupf gewesen, das wusste er genau.
Ein greller Lichtblitz fiel wie ein Leuchtstrahl auf die mit einem Stein verschlossene Weidentür. Er riss sie auf, warf Rip hinein und kroch hinterher.
Als er die Tür hinter sich schloss, klang das Kreischen des Windes etwas leiser, dafür hämmerte der Eisregen umso lauter gegen die Wände. Der Unterschlupf war leer, aber in der Feuerstelle schwelte Glut. Derjenige, der ihn gebaut hatte, konnte nicht weit sein.
Während Torak das Eis von seiner Kleidung strich, sah er sich prüfend um und stellte fest, dass hier jemand mit viel Sachverstand am Werk gewesen war. Die Feuerstelle lag etwas erhöht auf kleinen Stöcken, weit genug vom frostkalten Boden entfernt; ein Steinkreis sorgte dafür, dass sie nicht verrutschte; an einer Seite war ein kleiner Vorrat an Feuerholz aufgeschichtet worden. Köcher und Bogen hingen – weit genug von den Flammen entfernt – zum Trocknen darüber; aus einem Sack voller Schnee, der in der Eile aus einem Wams gefertigt worden war, tropfte Wasser in einen zur Hälfte gefüllten Eimer.
Rip zupfte aufgeregt am Schlafsack. Etwas rührte sich darin. Dann spähte Rek daraus hervor. Die beiden Raben feierten ihr unverhofftes Wiedersehen mit lautstarkem Gekollere und
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