Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
Ihr Gesicht hatte wieder Farbe angenommen, ihr Haar war ein Durcheinander aus feuerroten Ranken. Torak spürte, dass ihm schon allein durch ihre Nähe warm wurde.
Das Feuer war fast heruntergebrannt, also fütterte er es mit Holz. Draußen wütete immer noch der Eissturm. Plötzlich fing Torak an zu zittern. Der Sturm hätte Renn beinahe das Leben gekostet. Er hätte sie beinahe umgebracht.
Er sagte ihr, wie leid es ihm tat, dass er ohne sie aufgebrochen war, woraufhin sie ihm einen ihrer rätselhaften Blicke zuwarf. Sie erzählte ihm, was sich im Lager ereignet hatte, seit er weggegangen war: Sie berichtete von der Schattenkrankheit und von Fin-Kedinn, der ganz allein zu einer geheimnisvollen Reise aufgebrochen war. Schließlich, als Torak es nicht mehr länger hinausschieben konnte, erzählte er ihr widerstrebend vom Angriff der Adlereule, bei dem Dunkelfell, Schatten und Pebble ums Leben gekommen waren.
Renn lauschte in erschüttertem Schweigen. »Alle drei?«, fragte sie nach einer Weile.
Er nickte. »Ich weiß nicht, wie Wolf das ertragen soll.«
Aber sie war nicht umsonst eine Blutsverwandte Fin-Kedinns. Torak sah es ihrer Miene an, dass sie bereits darüber nachsann, was der Anschlag bedeuten mochte. »Diese Eule«, sagte sie. »Ist dir etwas Besonderes an ihr aufgefallen?«
»Ich habe in ihre Augen gesehen. Sie waren leer.«
»Aha. Also war es kein Dämon.«
»Ich glaube nicht.«
»Ich frage mich, was Eostra mit der Eule gemacht hat.« Renn sprach wie eine Schamanin, die das Handwerk einer anderen begutachtet, und Torak bewunderte insgeheim, wie schnell sie sich von der schlimmen Nachricht erholte. »Sie ist nach Süden geflogen, sagst du?«
»Ja. Sie hat Pebble mitgenommen, vermutlich um Wolf auf ihre Fährte zu locken. Er ist irgendwo da draußen, im Sturm. Falls er überhaupt noch am Leben ist.«
Renn blickte ihn an, plötzlich wieder mehr Mädchen als Schamanin.
»Er lebt«, erklärte sie bestimmt. »Wolf kommt allein zurecht.«
Torak schwieg. In Gedanken vernahm er noch einmal das Heulen seines Rudelgefährten. Wolf hatte sich nicht so angehört, als würde er noch viel darum geben, ob er lebte oder tot war.
Zusammengekauert im flackernden Schein des Feuers, glaubte er, durch das Brüllen und Fauchen des Sturms ein grausiges Lachen zu hören.
»Eostra hat uns den Eissturm geschickt«, sagte er. »Glaubst du nicht auch?«
Renns dunkle Rabenaugen glänzten. »Sie hält den Wald in einer eisigen Faust gefangen.«
Sie lauschten gemeinsam, wie der Sturm die Bäume fällte.
»Seit du aufgebrochen bist, schickt sie uns Zeichen«, sagte Renn.
»Ich habe eines davon gesehen. Es sah wie ein Vogel mit Stacheln aus und war in den Stamm einer Eibe gehackt.«
Renn zögerte. Er ahnte den Grund ihrer Zurückhaltung. Sie überlegte, wie viel sie ihm erzählen sollte. Schließlich erwiderte sie: »Das Zeichen bedeutet, dass Eostra ihr Lager im Berg der Geister eingerichtet hat.«
Der Berg der Geister. Obwohl Torak den Namen noch nie gehört hatte, überrieselte es ihn kalt.
»Fin-Kedinn hat mir erzählt, er sei den Bergclans heilig«, fuhr Renn fort. »Er hat gesagt, wenn wir sie finden, könnten sie uns dort hinführen.«
Während er ihr zuhörte, stiegen in Torak beklemmende Vorstellungen auf. Dort sind Höhlen, dachte er. Bisher hatte er sich nur zweimal in Höhlen gewagt: Damals, als der Bärendämon sein Unwesen getrieben hatte und er so verzweifelt auf der Suche nach dem Steinzahn gewesen war, und dann ein zweites Mal im Hohen Norden, um Wolf zu retten. Jedes Mal hatte ihn der Streuner davor gewarnt. »Wenn du erst einmal drin warst«, hatte der alte Mann gesagt, »bist du nicht mehr derselbe. Du lässt dort unten etwas zurück. Dort unten im Finstern.« Der Streuner mochte zwar nicht ganz bei Trost sein, ab und zu blitzte jedoch ein Rest von gesundem Menschenverstand in ihm auf. Seine Warnungen waren sehr eindringlich gewesen. Torak befiel eine bange Vorahnung. Wenn er die Warnungen des Streuners missachtete und sich wiederum in eine Höhle begab, würde das Erdmaul zuschnappen und ihn für immer einschließen.
Renn rief ihn beim Namen und holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja«, log er.
Sie nahm seine Hand. Ihre schmalen, warmen Finger gaben ihm Kraft. »Torak«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was Eostra mit uns vorhat. Eines allerdings weiß ich: Sie versucht, dich von mir und Wolf zu trennen. Sie will dich allein. Aber das wird ihr nicht
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