Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
spürte er, dass sein Rudelbruder viele Sprünge entfernt war. Er hatte einen Fehler begangen. Er hätte nie in die Berge laufen sollen.
Er hatte in der Nähe des großen Baus der Schwanzlosen auf dem Rentierkopf herumgekaut, als die Adlereule dicht über ihn hinweggeflogen war. Er hatte gewusst, dass es ein Trick war, aber er konnte sich einfach nicht zurückhalten und sie nicht verfolgen. Sie hatte ihm sein Junges genommen.
Wolf war ihr durch Hell und Dunkel gefolgt, doch jetzt war die Adlereule verschwunden, und er wusste nicht mehr, wo er war. Seine Pfoten versanken im Weichen Weißen Kalt, die Berge ragten hoch über ihm auf. Der Wind führte den Geruch von Schneehuhn und Hase mit sich – aber nicht den von Groß Schwanzlos. Wolf hob die Schnauze und stieß ein kurzes, durchdringendes Bellen aus. Wo bist du?
Kein vertrautes Heulen kam als Antwort.
Der Wind drehte sich und Wolf hielt die Nase hinein. Plötzlich roch er etwas, was er noch nie gerochen hatte. Hunde. Aber etwas stimmte nicht mit ihnen. Wolf nahm wahr, dass sie groß und stark waren, hinterhältig und voller Hass. Er spannte die Pfoten an. Gegen Kreaturen wie diese hatte Groß Schwanzlos nicht viel mehr Chancen als ein Neugeborenes.
Es war ein stürmischer Tag, der Wind ächzte durch die Schlucht des Verborgenen Volkes. Torak hatte keine verdächtigen Geräusche gehört, aber jedes Mal, wenn ein Kiesel ins Rollen geriet, schreckte er auf.
Von Zeit zu Zeit kam er an Felsbrocken vorbei, in denen eine Spirale eingemeißelt war. Juksakai hatte erzählt, dass seine Vorfahren sie dort angebracht hatten, um den Pfad ins Gebirge zu markieren; doch schon viele Winter lang hatte sich keiner mehr dort hineingewagt.
Aber wer hatte dann das Eis von den Spiralen gekratzt?
Und wo war Wolf?
Torak versuchte, nicht daran zu denken, was Eostras Hunde seinem Rudelbruder antun könnten. Und er konnte ihn nicht einmal rufen, nur in Gedanken.
An manchen Stellen reichte ihm der Schnee bis zum Oberschenkel; an anderen musste Torak über Felsbrocken klettern, die der Wind freigefegt hatte. Bald kam er ins Schwitzen, doch dank seiner Bergkleidung fröstelte er nicht. Sein Wams war vorne und hinten mit dichten Tauchvogelfedern und unter den Armen mit Schneehuhnfedern gefüttert, sodass der Schweiß trocknen konnte. Die Strümpfe aus der Wolle des Moschusochsen waren leicht wie Spinnfäden und trotzdem unglaublich warm. Trockene Moosflechten in den Schuhen schützten ihn vor Blasen und Rohlederwickel an der Sohle sorgten für guten Halt.
Vor der dünner werdenden Luft konnte ihn allerdings nichts schützen. Sein Kopf schmerzte und er war ständig außer Atem. Am beunruhigendsten aber war das Wissen, dass er sich an einem Ort aufhielt, an dem er besser nicht sein sollte.
Die Schlucht des Verborgenen Volkes war ein verwirrender Irrgarten aus Klüften, Vorsprüngen und verschlungenen kleinen Tälern. Hoch aufragende Klippen schoben sich vor den Himmel. Der Rotwasserfluss war unter die Erde geflohen. Hier gab es nur eine Welt aus Stein.
Und das Verborgene Volk wollte ihn hier nicht haben.
»Sie gaukeln einem etwas vor«, hatte Juksakai gesagt. »Einmal habe ich nahe der Mündung zur Schlucht eine Schneemaus gefunden, die zu Stein erstarrt war. Ein anderes Mal ist ein großer weißer Vogel im Felsen verschwunden.«
»Aber wer sind diese Verborgenen?«, hatte Torak gefragt. Er wusste, dass sie in Seen und Bächen und Felsen lebten; er hatte sie sogar zuweilen gespürt und die Erinnerung daran war nicht sehr angenehm. Aber er hatte sich nie die Zeit genommen, darüber nachzudenken, wer oder was sie waren oder woher sie kamen.
»Früher einmal waren sie Clans wie wir«, hatte Juksakai ihm erzählt. »Doch vor langer Zeit, während des Großen Hungers, fingen sie an, andere Menschen zu töten und aufzuessen. Der Weltgeist hat sie dafür bestraft, indem er bestimmt hat, dass sie für immer im Verborgenen leben müssen und nur hervorkommen dürfen, wenn sonst niemand in der Nähe ist. Deshalb sieht man sie nie. Kommt man ihnen zu nahe, findet man nichts als Steine.«
Torak spürte sie, wie sie ihn aus Felsspalten heraus beobachteten. Er kam an einem Kreis aufrecht stehender, gegeneinandergelehnter Steine vorüber. Als er einen Blick zurückwarf, nahm er eine Bewegung wahr. Im Weitergehen vernahm er ein leises Rascheln. Es hörte auf, als er stehen blieb, doch als er weiterging, setzte es wieder ein.
Als der Nachmittag halb vorüber war, hielt er inne, um zu Atem zu
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