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Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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keinen Zweck. Sie wusste, dass er da war.
    Dann sah er es.
    Bei einer Katastrophe vor längst vergangenen Zeiten waren Felsen übereinandergestürzt und bildeten einen Haufen, so hoch wie zwei ausgewachsene Männer. Ganz oben auf dem Haufen ruhte eine schwarze Steinplatte, auf der ein Feuer brannte. Hinter diesem Opfertisch, flankiert von zwei Tokoroths, die mit Knochen klapperten, stand die Adlereulenschamanin.
    Ihr Federumhang schien die Dunkelheit anzuziehen, doch ihre Maske leuchtete in gespenstischem Weiß. In einer leichenhaften Hand hielt sie die Keule mit dem Feueropal, in der anderen den dreizackigen Spieß zum Einfangen der Seelen.
    Kraft der Knochen
Und Kraft des Steins
Und Kraft des dämonischen Auges

    Torak versuchte zu sprechen, aber sein Mund war wie ausgedörrt.
    Die Arme der Maskierten hoben sich, ihr geflügelter Schatten verschlang die Höhle. Die Tokoroths umschlichen sie unterwürfig, auf ihren bösen Kindergesichtern spiegelten sich Schrecken und Bewunderung.
    »Du weißt, dass ich hier bin«, keuchte Torak. »Du weißt, dass ich dich aufhalten werde.«
    Die Maskierte unterbrach ihren Sprechgesang nicht, doch ihr Spieß schwenkte herum und zeigte auf Torak. Am Fuße des Steinhaufens leuchteten sieben Augenpaare auf. Dunkle Schatten kamen auf ihn zugeschossen.
    Torak stieß sein Messer in die Hülle, streifte die Schuhe ab und kletterte am nächstbesten Steinzahn empor. Schon hatte ihn das Rudel fast erreicht. Er hievte sich auf einen mehrere Finger breiten Vorsprung und zog rasch die Beine nach. Unter ihm sammelten sich springend und schnappend die Hunde. Ihr Atem strich heiß um seine nackten Fußsohlen, ihre Kiefer zerbissen die Luft. Knurrend fielen sie zurück und setzten erneut zum Sprung an. Ihr Hass saugte an seinen Seelen.
    Auf Armlänge über ihm verschmolz der Vorsprung in unregelmäßigen Ausbuchtungen mit einem herabhängenden Zahn. Womöglich konnte er noch höher hinaufklettern. Aber dann konnte ein Tokoroth herabsteigen. Ein Schatten trudelte in schnellem Flug auf ihn zu. Er stieß mit dem Messer danach. Die Eule drehte ab und flog zurück zu ihrer Gebieterin.
    Schweißüberströmt hielt Torak sich fest. Der beißende Rauch des Feuers machte ihn ganz benommen. Durch den Rauch sah er die Seelenesserin ihren Spieß beiseitestellen. Dann fing sie an, eine Kordel um den Feueropal zu wickeln. Den Tokoroths entfuhr ein Seufzen. Mit fieberhafter Verbissenheit klapperten sie mit ihren Knochen.
    Der Schein des Feuers warf rostrote und goldene Schimmer auf Eostras Kordel, die wie Haare geflochten war. Beim Zusehen wuchs in Torak das Gefühl, immer tiefer ins Herz des Feueropals hineingezogen zu werden.
    Der Stein hatte das grässliche Rot einer tödlichen Wunde angenommen. Er verströmte Schönheit und Kummer und wahnsinniges Verlangen. Es war der starre Blick des Großen Auerochsen am Winterhimmel, der mit all dem Schmerz loderte, den er jemals verursacht hatte.
    Plötzlich verstummte der Singsang der Seelenesserin. Mit rauem Flüstern murmelte sie, einen nach dem anderen, die Namen der Ruhelosen Toten.
    Torak erschrak so sehr, dass er beinahe hinuntergefallen wäre. Jetzt endlich verstand er, was sie vorhatte. Und er konnte sie nicht davon abhalten. Er konnte nur an seinem Platz kauern, wie eine Taube, die früher oder später der Falke packte.
    Sein Medizinbeutel bohrte sich in die Hüfte. Das Horn war leer, es half ihm jetzt nichts.
    Trotzdem.
    Seine Mutter hatte unter Einsatz ihres Lebens einen Pakt mit dem Weltgeist geschlossen. Der Weltgeist hatte ihn zum Seelenwanderer gemacht. Er war es ihr schuldig, dass er seine Begabung ein letztes Mal gebrauchte.
    Torak wischte sich den Schweiß von der Stirn und rief zu der Seelenesserin hinüber. »Du glaubst, du hast mich schon! Du glaubst, ich kann nicht an dich herankommen! Du irrst dich!« Seine Stimme klang beklommen und ängstlich.
    Er kletterte zu der Stelle, an der die oberen und die unteren Zähne miteinander verschmolzen, ging dort in die Hocke und schlang die Beine um den Fels. Jetzt konnten die Hunde, obwohl seine Beine herunterhingen, ihn nicht erreichen. Dann band er sich rasch mit seinem Gürtel am Stein fest. Anschließend nahm er Saeunns schwarze Wurzel aus dem Beutel und schob sie in den Mund.
    Seine Eingeweide zogen sich vor Schmerz zusammen. Er stieß einen Schrei aus …
    … und seine Stimme war das heisere Raunen der Seelenesserin, die die Ruhelosen Toten rief.
    Durch ihre Augen und die Augenschlitze ihrer Maske

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