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Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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ihren Schlafsack beiseite. »Also los«, sagte sie.
    Er nahm sie wieder am Handgelenk und rannte los. Der weiße Rabe flog voraus. Der Junge namens Dark musste die Augen einer Fledermaus haben, um in dieser Düsternis etwas zu erkennen. Renn sah kaum den Boden vor den Füßen, aber sein Schritt war ganz sicher. »Ich lass dich nicht fallen«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gehört. Sie glaubte ihm, auch wenn sie selbst nicht recht wusste, warum.
    Nach dem steilen, kurvenreichen Aufstieg schmerzte ihr Knöchel, und sie war erleichtert, als Dark am Fuß einer Felswand stehen blieb.
    Zumindest glaubte sie, dass es eine Felswand war. Die Sterne waren hinter Wolken verborgen, die Nacht schwarz wie Basalt. Sie sah den Raben davonfliegen, ein weißer Schimmer, den die Dunkelheit im Nu verschluckte.
    »Licht«, murmelte der Junge und ließ sich auf die Knie fallen. Eine Birkenholzfackel flackerte auf und erhellte sein merkwürdiges blasses Gesicht. »Da rein« sagte er.
    Renns Magen zog sich zusammen. Es war eine gezackte Spalte im Berg, wie ein Mund voller abgebrochener Zähne, dazu kaum hoch genug für einen Dachs. Sie würden auf dem Bauch hineinkriechen müssen.
    »Ich kann da nicht rein«, sagte sie.
    »Du bleibst nicht stecken. Ich gehe voran, du schiebst deine Axt und den Bogen vor dir her, ich nehme sie dir ab. Das geht schon, du wirst sehen.«
    Als Renn hinter ihm herkroch, spürte sie die steinernen Zähne zubeißen, spürte, wie sie ihr den Atem aus der Brust pressten. Sie schlängelte sich weiter und versuchte, nicht an den Berg über sich zu denken. Panik erfasste sie. Ihre Arme waren gegen ihre Brust gedrückt. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie steckte fest, so wie sie schon einmal oben im Hohen Norden festgesteckt hatte. Doch diesmal würde sie nicht mehr rauskommen.
    »Wir sind durch«, sagte der Junge, packte ihre Kapuze und zog sie in einen hallenden Raum.
    Sie stieß sich den Kopf und lachte nervös.
    »Vorsicht! Einige Steine sind lose, du könntest einen Steinschlag auslösen. Und pass auf die Löcher auf.«
    Es war unheimlich, immer nur einen Schritt weit sehen zu können. Die Dunkelheit hinter dem flackernden Fackelschein war so dicht, dass sie auf ihre Augäpfel drückte.
    Mit einem Pfeil tastete sie den Boden vor sich ab. Sie stolperte. Ihre suchende Hand fand etwas Glattes, Gewölbtes. Ein Schädel! Ihr Wimmern ließ den Jungen zurückkommen. Das Licht offenbarte den Schädel eines Bären: riesig, ertrunken in Stein.
    »Ja, viele Knochen« sagte Dark. »Aus den alten Zeiten, als der Berg noch wacher war. Er hat viele Geschöpfe ertränkt.«
    Als sie weiter vordrangen, hörte Renn irgendwo Wasser tropfen und sie spürte kalte Luft aus unsichtbaren Tunneln. Sie entdeckte zusammengewachsene, nasse graue Säulen. Schatten huschten umher. Sie senkte den Blick vor dem Verborgenen Volk des Berges.
    »Vorsicht, hier ist es tief«, warnte der Junge.
    Sie machte einen Schritt über eine Felsspalte und hörte tief unten Wasser flüstern.
    Dark blieb so abrupt stehen, dass sie gegen ihn prallte.
    »Was ist los?«, fragte sie.
    »Er ist zu« sagte er tonlos.
    Ein Felsblock versperrte den Tunnel. In den Stein war ein mit Gips beschmiertes Bild geritzt, das kränklich weiß aussah. Eine riesige Eule. Ihr Körper hatte sich abgewandt  – Renn sah die hinter dem Rücken verschränkten Flügel –, aber der Kopf war nach hinten gedreht und blickte sie finster an. Die Bedeutung war unmissverständlich. Eostra sieht alles.
    »Sie weiß, dass wir hier sind«, sagte Renn.
    »Natürlich weiß sie das«, sagte Dark.
    Er trat zur Seite und nahm das Licht mit. Die Eule versank im Schatten, aber Renn spürte ihren bösen Blick.
    »Ich glaube, es gibt noch einen Tunnel«, murmelte Dark und fuhr mit seinen langen blassen Fingern über die Felsen, als erspürte er deren Mitteilung. »Ah. Hier!«
    Er führte sie über einen Steinhaufen und dann in ein feuchtes Loch hinab. Dieser Tunnel war so eng, dass sie sich seitlich hineinschieben mussten, doch zu Renns Erleichterung wurde er bald breiter.
    Dark blieb wieder stehen. »Daran erinnere ich mich nicht.«
    Er hob die Fackel und zeigte Renn eine Höhle, die mit mehreren Lagen gelblichen Gesteins überdacht war. Drei Tunnelmündungen klafften auf. Die linke war niedrig und von tropfenden Steinzähnen gesäumt. Die mittlere öffnete sich über einem rötlichen Stumpf, der wie ein abgetrenntes Gliedmaß aussah. Die dritte, größte, war von einem Speer aus Stein

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