Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
ruhigen, kalten Tag aus; einen Stechpalmenhain, einen halben Tagesmarsch vom Lager entfernt. Wir haben sie in ihrem Schlafsack in den Schnee gelegt, und sie hat das Gift getrunken, das sie vorbereitet hatte. Es sollte sie betäuben. Wir haben zu den Vorfahren gesungen, um ihnen zu sagen, dass sie kommt. Dann hat sie uns weggeschickt. Sie ist gut gestorben.«
Renn legte das Messer zur Seite. »Ich weiß, warum du mir das erzählst. Aus dem gleichen Grund, aus dem du Durrain dazu gebracht hast hierzubleiben. Um sicherzugehen, dass ich ihren Platz einnehme.«
Fin-Kedinn blickte sie unverwandt an. »Hast du davor Angst?«
»Ich hab keine Angst!«, fauchte sie zurück.
Der Hund legte die Ohren an und drückte sich enger an Fin-Kedinn.
Renn starrte finster ins Feuer. »Das ist nicht gerecht!«, brach es aus ihr heraus. »Alle verbeugen sich vor mir und nennen mich Schamanin, aber vor ihm haben sie Angst. Manche machen sogar das Zeichen der Hand, um das Böse abzuwehren.«
»Er ist von den Toten zurückgekehrt, Renn. Natürlich ist ihnen das nicht geheuer. Trotzdem wissen sie, was sie ihm zu verdanken haben.«
»Allerdings«, erwiderte sie. »Sie erzählen sogar Geschichten über ihn: Der Lauscher, der mit Wölfen und Raben spricht. Sie wollen bloß nicht, dass er bei ihnen lebt.«
»Und Torak. Was möchte er?«
Wie immer hatte er gespürt, was sie bedrückte. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie kläglich.
Fin-Kedinn fuhr mit dem Finger über den Schaft eines Pfeils. »Man sagt, dass im Anfang alle Menschen waren wie Torak und die Seelen der Tiere kannten. Inzwischen ist er der einzige, und Durrain glaubt, er ist womöglich der letzte. In zukünftigen Zeiten gibt es womöglich keine Seelenwanderer mehr, und die Freundschaft zwischen Mensch und Hund ist alles, was davon bleibt: als Erinnerung an das, was einmal war.« Er hielt kurz inne. »Torak ist ein Außenseiter, Renn. Der Clan weiß es. Er weiß es.«
Renn sprang auf. »Du auch? Willst du, dass er geht?«
»Ob ich das will? « Fin-Kedinns blaue Augen flammten auf. »Glaubst du, ich will, dass er geht?«
»Dann sag ihm, er soll bleiben!«
»Nein« sagte der Rabenführer. »Er muss seinen eigenen Weg finden.«
Fin-Kedinn fing Torak auf dem Weg zu den Wölfen ab und bat ihn, mit ihm ins Tal zu gehen, um nach den Fallen zu sehen. Torak wollte zuerst ablehnen, doch etwas in der Stimme seines Ziehvaters brachte ihn dazu, sich anders zu besinnen.
Der Morgen dämmerte noch lange nicht, aber der Mond schien hell und die Bäume warfen lange Schatten über den gefrorenen Fluss. Torak und Fin-Kedinn gingen knirschend über das Eis und stießen frostige Atemwolken aus. Am gegenüberliegenden Ufer blieb ein Rentier stehen, scharrte im Boden und blickte ihnen nach, bevor es weiter an den Flechten kaute.
Erst mit einiger Verspätung bemerkte Torak, dass Fin-Kedinn einen Vorratsbeutel und eine aufgerollte Decke bei sich trug. Er fragte ihn, ob er seine auch hätte mitbringen sollen. Fin-Kedinn verneinte. Bald darauf bog er seitlich in eine Schlucht ein.
»Aber die Fallen sind doch oben am Fluss«, sagte Torak.
Fin-Kedinn kletterte weiter.
In der Senke lag der Schnee tiefer. Bäume, die der Schneesturm umgeknickt hatte, warfen im Mondlicht seltsame bucklige Schatten.
Der Streuner saß neben einer umgestürzten Stechpalme und löste die Schnüre von seinem Vorratsbeutel.
Torak wartete ab. Es kam ihm wenig glaubhaft vor, dass dieser klägliche Überrest eines Menschen einmal ein großer Schamane gewesen sein sollte. Nur Fin-Kedinn hatte tief ins Herz des Streuners hineingeschaut und erkannt, dass er noch immer die Fähigkeit und den Rest Verstand besaß, die ihn dazu bringen würden, die Kahlen Berge zu überqueren und nach Eostras Versteck zu suchen. Das Vertrauen des Rabenführers war nicht enttäusch worden.
Fin-Kedinn legte zum Zeichen der Freundschaft die Finger an die Brust. »Narrander«, sagte er leise.
Der Streuner beachtete ihn nicht.
Neugierig setzte Torak sich neben ihn. »Streuner«, sagte er. »Du hast mir das Leben gerettet. Ich danke dir.«
»Was? Was?«, fuhr ihn der alte Mann an.
»Du hast mich aus dem Berg hinaus getragen. Du hast meine Hände und Füße zugedeckt, damit ich keine Frostbeulen bekomme.«
Der Streuner pulte eine Laus aus seinem Bart, zerdrückte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und aß sie auf. »Die Verborgenen haben den Wolfsjungen gerettet. Der Streuner hat ihn nur rausgezogen.« Er kaute noch eine Laus und stieß
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