Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
sich daneben auf die Knie sinken und rief: »Renn! Es ist Torak! Er lebt!«
Kapitel 40
Das Junge wachte erschrocken auf. Das war Wolfs Heulen!
Nein. Es hatte sich getäuscht. Das waren nur die Raben, die Wolfgeräusche machten. Sie taten das oft und lachten, wenn das Junge hin und her rannte und sein Rudel suchte.
Missmutig rollte der junge Wolf sich wieder zusammen und legte den Schwanz über die Schnauze. Aber er konnte nicht mehr einschlafen. Er war zu hungrig.
Nachdem er unter dem Felsen hervorgekrochen war, stand er im Eingang des Baus und hielt die Nase witternd in die Luft.
Das Hell war da, aber nicht die Raben. Also würde es auch kein Fleisch geben. Es war wärmer und das Weiche Weiße Kalt war tiefer. Der weiße Hang fiel von dort, wo er stand, steil ab und stieg dann auf der anderen Seite zum Berg hin wieder an. Sogar der Berg sah freundlicher aus. Einmal hatte der junge Wolf versucht hinüberzugelangen, aber die Raben hatten ihn zurückgedrängt. Er hatte sich geärgert. Dann hatte er das Bellen auf dem Berg gehört: das grässliche Bellen wütender Hunde, das geklungen hatte, als würden sie Wolfsjunge fressen. Danach hatte er es nicht noch einmal versucht.
Er blinzelte in das grelle Licht, tappte in das Weiche Weiße Kalt hinein – und versank bis zum Bauch. Ängstlich suchte er das Oben nach der schrecklichen Eule ab. Nichts. Vielleicht hatte der große Schwanzlose sie vertrieben.
Der große Schwanzlose war im Dunkeln gekommen, nachdem der junge Wolf bei der Jagd nach Lemmingen in ein Loch gefallen war und nicht mehr herauskam. Der Wolf hatte schon eine ganze Weile jämmerlich gejault, als der große Schwanzlose in das Loch gespäht hatte. Er hatte einen starken, vertrauenerweckenden Geruch verströmt und deshalb hatte der Wolf mit dem Schwanz gewedelt. Der große Schwanzlose hatte ihn herausgezogen, ihm einen Fetzen leckeres schleimiges Fleisch hingeworfen und sich dann wieder auf den Weg gemacht.
Es war sehr ruhig auf dem Berg. Sogar der Wind war verschwunden. Die Stille war unheimlich.
Der junge Wolf bellte. Ich bin hier!
Keine Antwort. Er fing an zu winseln. Er vermisste sein Rudel so sehr, dass es wehtat.
Dann hörte er plötzlich auf zu winseln. Aus der Ferne vernahm er das tiefe Krächzen von Raben, das sich an der Bergflanke brach. Er drehte die Ohren. Das waren seine Raben!
Er jaulte.
Aber sie kamen nicht.
Na, dann musste er eben zu ihnen gehen.
Eifrig hüpfte er durch das Weiche Weiße Kalt. Es brach unter ihm weg und der junge Wolf purzelte den ganzen Hang hinab.
Unten angekommen stellte er sich wieder auf die Beine und nieste. Der Bau war weit oben, unerreichbar weit. Was sollte er jetzt tun?
Irgendwo in den Bergen heulte ein Wolf.
Das Junge war sofort hellwach. Das war kein Rabentrick, das war ein richtiger Wolf! Das war seine Mutter!
Ich bin hier!, bellte der junge Wolf aufgeregt. Hier bin ich!
Das Heulen hörte auf.
Der junge Wolf bellte immer weiter, während er durch das Weiche Weiße Kalt watete. Ich bin hier!
Er wurde schon langsam müde, als ein dunkler Schatten vom Berg herabgestürmt kam – und dann war auf einmal seine Mutter über ihm und sie rollten gemeinsam durch den Schnee und sie winselte und schnüffelte und er maunzte und vergrub sich in ihr wunderbar warmes Fell und sog ihren geliebten starken, fleischigen Muttergeruch in sich auf. Dann würgte sie ein bisschen Essen hoch und der junge Wolf schluckte es hinunter, während sie ihn überall gründlich ableckte. Danach drückten sie sich aneinander und heulten ihr Glück in das Oben hinein.
Der junge Wolf heulte noch immer, als seine Mutter ein kurzes Winseln ausstieß und davonstob.
Er verstummte mitten im Geheul und öffnete die Augen.
Und da sah er seinen Vater, der über das Weiche Weiße Kalt auf sie zugerannt kam.
Kapitel 41
Es ist Sommer. Renn spaziert mit Torak unter den murmelnden Bäumen dahin.
»Geh nicht«, sagt sie.
Torak schaut sie an und lächelt. Sie sieht die kleinen grünen Flecken in seinen Augen. »Aber Renn«, sagt er. »Der Wald geht immer weiter. Ich hab es vom Berg aus gesehen.«
»Bitte. Ich kann es nicht ertragen.«
Er streicht ihr über die Wange und geht weg.
Renn biss sich auf die Knöchel und kuschelte sich tiefer in ihren Schlafsack.
Es muss ja nicht so kommen, sagte sie sich. Alles wird gut.
Sie lag auf der Seite und schaute zu, wie der Feuerschein auf dem Querträger spielte. Sie war wieder im Wald, im großen Lager, in dem der Rabenstamm zu
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