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Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Titel: Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Keller
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seine eigene Sicht auf die Dinge und versucht die Archive dieser Sichtweise anzupassen. Dabei sollte es doch genau anders herum sein. Die Wahrheit steht in den Archivbüchern und sie zu verändern ist zwar manchmal notwendig, aber eine gefährliche Sache.“
    „ Notwendig sie zu verändern?“
    Otto seufzte. „Ich hätte es nicht ansprechen sollen, aber was soll's? Ein Beispiel: Sagen wir ein neuer Herrscher kommt an die Macht. Er ist darauf aus ein benachbartes Reich zu erobern. Was wird er also als erstes tun? Er wird seinem Volk sagen, dass es einen berechtigten Anspruch auf das Land hat und diesen Anspruch in die Geschichtsbücher schreiben lassen.“
    „Aber das ist dann doch gelogen!“, protestierte Erich.
    „ Ganz meine Meinung.“, stimmte ihm Otto zu. „Zumindest aus der Sicht eines Archivars. Aus der Sicht des Herrschers sieht die Sache ganz anders aus. Für ihn sind die Geschichtsbücher nur eine weitere Waffe, die er im Krieg einsetzen kann und seine Lüge wird zur Wahrheit, wenn er siegreich ist. Es gibt nichts, was eine Lüge rechtfertigen kann außer damit Erfolg zu haben. Ich wünschte nur, die Archivare vor mir hätten eine Kopie des Originals für sich zurückbehalten. Das würde es mir viel einfacher machen, die Geschichtsbücher zu korrigieren.“
    „ Du korrigierst sie?“
    Otto nickte und wies mit einer weit ausholenden Bewegung auf die Regale um uns herum.
    „Meine Vorgänger sind manchmal äußerst schlampig vorgegangen und wenn man genug gelesen hat, dann bekommt man ein Gefühl dafür, was der Wahrheit entspricht und was einfach nicht stimmen kann. Manche Quellen berichten von Königen, die über 100 Jahre geherrscht haben. Das kann natürlich nicht sein und mit ein wenig Glück findet man ihre unliebsamen Vorgänger, die aus den Archiven getilgt wurden. Aber ich schwafle hier vor mich hin und dabei bist du doch eigentlich hergekommen, weil du etwas wissen wolltest. Was war es noch gleich?“
    Erich starrte angestrengt auf die schwarzen Balken, die die darunter liegende Schrift verbargen.
    „Nach dem Namen Chilles. Gibt es vielleicht eine Möglichkeit die Namen wieder sichtbar zu machen?“
    Der Archivar legte seine Finger nachdenklich ans Kinn. Sie waren fleckig von Tinte.
    „Das wäre möglich, aber nicht dauerhaft. Es gibt ein Mittel, mit dem man Tinte auflösen kann. Es heißt Lehrlingswasser, weil es junge Archivare verwenden, um ihrer Fehler zu beseitigen. Wenn wir Glück haben, verschwindet damit die Gallapfeltinte mit der alles durchgestrichen ist zuerst und legt den Namen darunter frei – bevor auch der verschwindet.“
    „ Könnten wir es bitte versuchen? Dem Buch wird dadurch doch kein Schaden zugefügt, oder?“
    Otto schüttelte den Kopf. „Die Tinte, die man damals verwendet hat, taugt sowieso nichts. Ich werde den Text so oder so bald nachschreiben müssen bevor er völlig ausbleicht. Ich habe nichts dagegen.“ Er nahm einen Pinsel aus einer Schublade, feuchtete ihn an seiner Zunge an und tauchte ihn dann in eine kleine Flasche, aus der es durchdringend nach Essig roch. Vorsichtig strich er mit dem feuchten Pinsel über eine der übermalten Stellen und zog dann die Laterne näher heran, damit sie besser sehen konnten, was geschah. Zuerst passierte nichts. Erich fürchtete schon, dass das auch so bleiben würde, als der Archivar plötzlich scharf die Luft durch die Nase einsog. Er hatte bessere Augen als Erich und war es gewohnt auch die kleinsten Veränderungen in seinen Büchern wahrzunehmen, aber nach ein paar Sekunden sah Erich es auch: Wie schwarzer Schnee begann die Tinte wegzuschmelzen und die Strukturen eines Worts darunter freizulegen. Wie ein Baum, der in seinem Wachstum viele Jahre auf einmal überspringt, begannen sich die feinen Zweige von Buchstaben auszubreiten, in voller Blüte zu erstrahlen und dann wieder zu vergehen. Das Wort verschwand in einem grauen Balken, der alles war, was von ihrer Behandlung mit dem Lehrlingswasser übrig blieb.
    „Interessant.“, sagte der Archivar zufrieden, als Erich und er wieder zu atmen wagten und warf einen schnellen Blick auf die Rückseite des Blattes, um festzustellen, ob die Flüssigkeit auch die Tinte auf der Rückseite des Pergaments angegriffen hatte. Aber es war alles in Ordnung.
    „ Und?“, fragte Erich ungeduldig. „Stand da was von Chilles? Ich konnte den Namen nicht entziffern.“
    Der Archivar schüttelte den Kopf. „Nein. Der Name war Chiludes. Definitiv auch ein Name, den es heute nicht mehr

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