Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
stehend den Verlauf der Verhandlung abwarten mussten. Vor Bern lagen ein Apfel und ein Dolch als Insignien seiner Herrschaft, die je vier Ratsmitglieder zu seiner linken und zu seiner rechten hatten einen Becher mit Wasser vor sich stehen. Der niedrige Raum wurde von blau verglasten Laternen in ein Licht getaucht, das den Gesichtern der Anwesenden jegliche Wärme raubte. Wie die Ratsmitglieder reglos dasaßen, erinnerten Erich an die Pförtner-Statuen in den Katakomben unter Hornhus. Nach der Schilderung der Ereignisse, die von Otto, der still an seinem Schreibpult saß und nicht wusste, wie er sich verhalten solle, mitprotokolliert wurden, rezitierte Bern die Rechtsformel:
„ Den Gesetzen der Hürnin gemäß und nach dem Willen des Blauen Rates wird Erich das Reichsgebiet nach dem Tag des Bundes verlassen, weil er von den Äpfeln des Königs gegessen hat. Er soll keine Aufnahme suchen in einer der Städte der Hürnin oder auf einem ihrer Schiffe. Er soll ausgestoßen sein aus der Gemeinschaft und vogelfrei für alle, die seiner habhaft werden. Ebenso Sarn, weil er als sein Lehrmeister für ihn verantwortlich ist und Kern, weil er als Hüter des Hains diese Tat nicht verhindert hat. Die Rückkehr ist ihnen verwehrt auf ein Jahr und einen Tag.“
Sarn, der bisher eine undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte, protestierte heftig gegen dieses Urteil, aber Bern brachte ihn zum Schweigen, indem er donnernd mit dem Knauf des Dolches auf den Tisch schlug.
„So soll es verzeichnet werden in den Archiven der Hürnin um künftige Generationen davor warnen, ebenso in die Irre zu gehen, wie diese. Beschlossen vom Blauen Rat am Tag des Verbrechens in der Stadt Hornhus.“
Er streckte seine Hand aus und ließ sie auf den Apfel sinken. Erst als er ihn hoch über seinen Kopf hob verstand Erich, dass es sich hier nicht um ein Beweisstück handelte, sondern zum Ritual der Verhandlung – oder besser gesagt der Aburteilung – gehörte. Bern nahm den Dolch in die andere Hand und zerteilte den Apfel damit sorgfältig. Das Geräusche des aufbrechenden Fruchtfleischs, hallte durch den Raum und verursachte bei Erich Übelkeit. Er hatte das Gefühl, dass das Apfelstück, das er hinuntergeschluckt hatte, wieder nach oben wollte. Er hätte den Apfel nicht essen dürfen! Er hätte ihn noch nicht einmal anfassen dürfen, aber wie hätte er ahnen sollen, was das für Konsequenzen haben würde? Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und in seinem Kopf drehte sich alles. Er war verbannt. Nun konnte er nicht nur nie wieder in das Dorf, in dem er aufgewachsen war zurückkehren, nun war ihm auch noch Hornhus verwehrt. Er begann zu zittern, als er nach und nach begriff, was das für ihn und Sarn bedeutete.
Währenddessen teilte Bern die Teile des Apfels unter den anderen Ratsmitgliedern und sich selbst auf und sie aßen schweigend, während Sarn, Erich und Kern ihnen dabei zuschauen mussten. Otto hatte nach Berns letzten Worten still seine Schreibutensilien eingepackt und war mit hängenden Schultern verschwunden.
Einer nach dem anderen verließen auch die Ratsmitglieder und die Orkwachen, die sie begleitet hatten, den Raum. Nur die drei Verurteilten blieben zurück.
Erich hatte angefangen zu weinen und Sarn brach in ein schauriges Gelächter aus, das als wütender Schrei begann und in zynischer Heiterkeit endete.
„ Damit hat er endlich, was er immer wollte.“, zischte er und spuckte geräuschvoll auf den Boden, was Kern dazu veranlasste es ihm begeistert nachzumachen.
„ Was? Ich verstehe nicht.“, schniefte Erich.
„ Bern konnte mich noch nie ausstehen, noch weniger als seine beiden Brüder. Weißt du, was das erste war, was er getan hat, nachdem Kern vor zwölf Jahren zurückgekommen ist? Er hat ihn für unzurechnungsfähig erklärt und ist selber König geworden. Und mich hat er aus dem Rat geworfen.“
„ Brüder?“, fragte Erich.
„ Hast du das nicht gewusst? Du weißt doch sonst immer alles. Kern und Lern sind Berns Brüder. Seine älteren Brüder um genau zu sein. Sie haben vor ihm Anrecht auf Apfel und Dolch, es sei denn, sie sind tot oder nicht mehr bei Verstand. Wie praktisch für Bern, dass der Rat Kern nun fort schickt. Auf eine Reise ohne Wiederkehr. Dann muss er sich keine Sorgen machen, dass er vielleicht eines Tages wieder einen klaren Gedanken fassen könnte. Genauso gut hätte er das Todesurteil über ihn und uns alle verhängen können.“
„ Aber wir können nach einem Jahr wieder zurückkommen oder etwa
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