Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
in der Truhe nach den Sachen, die dort lagen, wie sie wußte, obschon sie sie seit sechzehn Jahren nicht mehr angeschaut hatte. Das Nelkenöl fand sie zuerst, und sie nahm den Stöpsel heraus und roch an dem Öl. Es duftete noch immer frisch und war brauchbar. Der Puder lag in einer kleinen Schachtel mit dem Pinsel. Sie nahm sie heraus. Ganz zuletzt stießen ihre Finger auf das Stück rotes Tuch, das sie aus den Roten Bergen mitgebracht hatte. Sie hob den verblichenen Stoffetzen aus dem Bauch der Truhe und breitete ihn über die Knie.
Tyré hatte das Tuch getragen. Sterbend hatte er es vom Arm gezogen und in ihre Hand gedrückt: seine shariza, das Ehrenzeichen des cheari, das ihm fünfzig Jahre früher Doménia verliehen hatte. Paxe hatte damals versucht, ihm zu sagen, daß sie kein Recht auf das Tuch besitze, doch er hatte sie gar nicht mehr gehört.
Sie streichelte das Tuch. Es roch nach Zedernharz. Sie hatte es nicht ein einzigesmal getragen, und sie würde es auch jetzt nicht umbinden, doch sie hatte es einfach wieder einmal ansehen müssen.
Sie heftete die Augen fest auf das rote Steinbild des Wächters. Aber nichts geschah – kein Gefühl der Befreiung oder des Abklingens der Sorge wollte sich einstellen. Sie redete sich gut zu, daß dies ja nur eine Statue sei, daß das Chea nicht immer zu den Menschen spreche ... Dann stand sie auf und schlang das steife Tuch um den Sockel der Statue. Darauf trat sie wieder an die Truhe und begann das Schwert aus dem Norden zu reinigen.
Als sie damit fertig war, legte sie das Schwert zurück in die Truhe und ging aus dem Haus. Das Herrenhaus der Ismeninas lag breit und prächtig an seinem Hügelhang; sie stieg hinauf und überlegte sich, wie es wohl drinnen sein mochte, während sie am Tor vorbeikam. Dumpf und feucht, wahrscheinlich.
Sie ging zum Waffenhof. Dort hatte man das Tor ausgetauscht. Es war nicht mehr ein Gattertor mit Eisenstäben, durch die man hineinsehen konnte, wenn nicht der Posten davorstand. Das neue Tor war aus Rotzederplanken, hatte ein schweres Schloß und war höher als Paxes Kopf, schloß genau mit der Höhe der Umzäunung ab. Der Mann am Tor (ein anderer als beim erstenmal) erblickte sie und erstarrte in Habachtstellung, den Speer quergelegt, das Tor versperrend.
»Sag eurem Hofmeister, Paxe-no-Tamaris ist hier und möchte mit ihm sprechen«, sagte sie.
Er verneigte sich. »Wenn du mich entschuldigen würdest, Hofmeisterin ...« Er schob den Riegel zurück und schlüpfte durch das Tor, das er so dicht an seinem Körper hielt, daß sie nicht hindurchzusehen vermochte. Sie lauschte der Zahlenkadenz, die über die Mauern drang, bis der Posten zurückkehrte. »Der Hofmeister ersucht dich, um den Waffenhof herum zu seinem Haus zu gehen.«
»Ich danke dir«, sagte Paxe. Sie ging um den Hof, und die Zählstimme wurde lauter. Eins – und zwei – und drei – und vier! Über ihrem Kopf schrien die Flußmöwen.
Die Tür der Hütte stand offen. Sie trat ein. Dobrin saß mit gekreuzten Beinen hinter seinem Tisch. In der Kupferschale lag ein Zweig mit gelben Blüten, ein zweiter Zweig stand vor der Statue des Wächters. Statt der Fetuchstengel lagen diesmal Apfelschnitze in einer schlichten blauen Schüssel.
Paxe zog die Stiefel aus und stellte sie in den Alkoven an der Tür, dann schritt sie über die Matten zu dem bereitgelegten Kissen.
Sie aßen von den Apfelschnitzen.
Dann sagte Dobrin: »Es tut gut, dich wiederzusehen.«
Paxe antwortete: »Du weißt doch, wo ich wohne.«
»Ja.« Es klang wie eine Entschuldigung. »Ich hatte sehr viel zu tun – und du hast jetzt die Nachtwache, oder? Ich mochte dich nicht beim Schlafen stören.«
Paxe lächelte. »Wie geht dein Training voran?«
»Gut«, sagte Dobrin. »Und das deine?«
Sie hatte vorausgesetzt, daß er davon wisse. »Wie erwartet. Wir haben die sejis noch nicht lang«, antwortete sie.
»Findest du, daß die Soldaten aus der Stadt schlechter sind oder besser im Gebrauch der Klingen?« fragte er.
Sie kratzte sich am Kinn. »Ungefähr genauso gut wie die vom Land – nur vergessen sie leicht, daß sie das Holz so anpacken müssen, als wäre es Stahl. Sie können sich einfach nicht vorstellen, daß es Schwerter sein sollen, für sie sind es Holzlatten.«
»Ja«, sagte Dobrin, »das gleiche stelle ich auch fest.«
Paxe fragte: »Wo hast du deine Waffenausbildung erhalten, Dobrin?«
»Bei einer Frau mit dem Namen Sithi. Im Galbareth. Sie war schon recht alt. Sie hatte eine Zeitlang mit einem
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