Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
die Sehne schnellen. Diesmal fuhr der Pfeil in den Rand des Ziels, blieb dort einen Augenblick lang stecken, fiel dann herunter und neben die verschnürten Heuballen. Sorren warf einen Blick auf die Erde bei ihrem rechten Fuß. Sie hatte noch vier Pfeile übrig.
»Anlegen!« befahl Kadra. »Du machst es gut. Zielen! Schau nicht auf den Pfeil! Schau aufs Ziel. Es bewegt sich nicht. Halt die Schultern unten. Los!«
Sie befanden sich auf der Hauskoppel von irgend jemand, viele Straßen weit entfernt von der Pflaumenstraße im Batto-Bezirk. Auf einer Wiese hinter ihnen grasten Pferde und Maultiere. Blaue Fliegen schwirrten wie besessen um die Tiere, die Heuballen und um die beiden Menschen. Auf dem Boden lagen alte und frische Pferdeäpfel. Es war heiß, und Sorren fragte sich ärgerlich, wie lange sie eigentlich schon hier weilten. Ihr erschien es wie eine Ewigkeit, obwohl es wahrscheinlich kaum mehr als eine oder zwei Stunden waren.
Tammo kam hinter ihr herangeschlichen; sie drehte sich nicht nach ihm um, aber sie konnte ihn hören und konnte ihn riechen. Er schlurfte mit den Füßen, als wären sie zu schwer, als daß er sie vom Boden heben könnte. Mit seiner weinerlichen Stimme fragte er Kadra etwas, die ihm freundlich antwortete. Tammo war schwachsinnig, und seine Aufgabe bestand darin, die Weide von Mist freizuhalten, eine niemals endenwollende Arbeit, die ihm nichts auszumachen schien, obwohl man hätte annehmen dürfen, daß sie ein Kind zum Wahnsinn treiben mußte. Doch Tammo war kein Kind; er war ein ausgewachsener Mann mit muskelschweren Armen und straffem schwarzen Haar, das ihm zottig auf die mächtigen Schultern fiel.
Sorren faszinierte ihn mit ihrem blonden Haar und ihrer lichten Haut. Als Kadra sie zum erstenmal hierher auf die Koppel gebracht hatte, hatte er die Hand ausgestreckt, um sie zu streicheln. Sorren war erschreckt zurückgewichen. »Laß ihn ruhig!« hatte die Ghya gesagt. »Er tut dir nichts. Er ist bloß neugierig.« Und so hatte Sorren stillgehalten, während Tammo ihr mit den Fingern durch die Haare strich, als wäre sie ein Pferd. Danach hatte er sie dann allerdings wirklich in Frieden gelassen.
»Leg an!« befahl Kadra. Sorren nahm einen der noch verbliebenen Pfeile auf. Schweiß brannte ihr in den Augen. Sie ließ den Pfeil los und trocknete sich die Augen – Bogenschützen mußten sehen können! Sie nahm den Pfeil erneut und achtete besonders darauf, die Fiederung nicht zu drücken. »Zielen. Los!« Diesmal flog der Pfeil genau auf das Ziel zu und blieb stecken. Er zitterte. »Gut«, sagte Kadra, und Tammo stieß einen komischen hellen Quietschlaut aus.
Sorren bog die Finger um den Griff in der Bogenmitte. Der Bogen war aus Holz und Horn gefertigt; er reichte ihr bis an die Brüste, wenn sie ein Ende auf dem Boden aufsetzte; die Spitzen waren nach außen geschwungen wie Flügel. Der Zug war nicht zu hart. Kadra hatte gesagt, er sei eigentlich zu leicht für sie, aber es sei besser, einen zu leichten Bogen zu haben als einen zu schweren, den sie nicht spannen konnte. Die Pfeile waren aus Zedernholz und hatten Leitfedern aus grauen Truthahnfedern. Die Sehne war Seide. »Anlegen!« kommandierte Kadra. Sie hatte die ganze Zeit direkt hinter Sorrens linker Schulter gestanden. »Zielen! Drück die Finger nicht so zusammen! Locker! Los!«
Im Boden steckte noch ein Pfeil. Sorren griff seufzend nach ihm. Er trug einen blauen Punkt, der anzeigte, daß es sich nicht um eine scharfe Waffe handelte, doch wenn sie daran dachte, daß sie innerhalb der Stadtgemarkung mit einem Bogen hantierte, begann ihr Herz zu hämmern. »Leg an!« befahl Kadra. Stumpfe Pfeilspitzen, hatte sie gesagt, waren besser für Kleinwild als scharfe echte Spitzen, weil sie betäubten und das Tier davon niederging. (Natürlich bedeutete das, daß man das Tier dann manchmal erst noch töten mußte, wenn man es gefunden hatte. Daran dachte Sorren gar nicht gern. Der Geruch von Blut war ihr zuwider!) »Zielen. Los!« Der Pfeil schoß mitten ins Ziel und blieb stecken. Sorren grinste.
»Spann den Bogen ab!« sagte Kadra. Sorrens Grinsen verging. Das war schwer, auch wenn man ihr gezeigt hatte, wie man es anstellte, und sie es selbst schon zwanzigmal getan hatte. Sie stemmte das eine Bogenende gegen ihren Fußspann, hielt den Bogen mit der rechten Hand still und bog ihn mit der linken von sich fort und schob die Schlinge der Sehne aus der Kerbe. Wenn man das falsch machte, konnte der Bogen zurückschnellen und einen
Weitere Kostenlose Bücher