Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
gab hohe Blumenbeete auf Hügelchen und einen flachen Teich, in dem Sorren rote Fische herumschwimmen sah. An einem der Blumenhügel stand eine Bank aus rosa Granit. Sie drückte das Kästchen fest an die Brust und wartete. Auf der Seite des Gebäudes ging eine Tür auf, und die Wahrheitsfinderin kam heraus.
Der Tempeldiener verneigte sich tief. Auch Sorren machte eine Verbeugung.
»Ich danke dir, Jomi«, sagte die Hexe mit ihrer wohlklingenden verführerischen Stimme. »Du kannst gehen.«
Der Akolyth verschwand. Die Wahrheitsfinderin setzte sich auf die Bank. »Also bist du doch noch gekommen«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, du würdest deine Furcht genug unter Kontrolle bringen und zu mir kommen. Ich hatte Arré Med gebeten, dich zu mir zu schicken, doch anscheinend hat sie es vorgezogen, das zu unterlassen. Dein Name lautet Sorren, das weiß ich. Weißt du den meinigen? Ich heiße Senta. Senta-no-Jorith.« Sie legte den Kopf schräg. »Und was führt dich heute zu mir, Kind?«
Sorren leckte sich über die Lippen. Wie sollte sie diesen Wirbelsturm in ihrem Innern erklären, der sie hergetrieben hatte? Sie hielt das Kästchen hin. »Ich mußte«, sagte sie. »Ich mußte dir das da bringen. Marti Hok hat gesagt, ihr werdet mir zeigen, wie man sie benutzt.«
»Also hast du mit Marti Hok über mich gesprochen?« sagte Senta. Sie schien nicht ärgerlich darüber zu sein. Dann nahm sie das Kästchen mit beiden Händen. Sorren erwartete, daß sie es aufmachen werde, doch sie tat es nicht. »Wie geht es dem Hause Med, mein Kind, nach all diesen trauervollen Ereignissen?«
Sorren vermutete, daß sie damit sagen wollte: Wie geht es Arré Med? »Sie ist zornig«, antwortete sie.
Senta verzog das Gesicht. »Und ganz mit Recht. Ron Ismenin ist ein Narr. Ist der Rat schon zusammengetreten?« Sorren nickte. »Hab keine Angst, ich werde dich nicht fragen, was dabei gesprochen wurde.« Sie öffnete das Kästchen und drehte die erste Karte um, den Tänzer. »O je ...« Sacht legte sie die Karte in ihren Schoß und nahm eine zweite, eine dritte heraus ... »Woher hast du die?«
»Sie haben meiner Mutter gehört«, sagte Sorren. »Meiner Mutter, Kité. Sie hat sie mir hinterlassen.«
»Sie sind schön«, sagte die Wahrheitsfinderin. »Man sieht mit ihnen die Zukunft voraus, nicht wahr? Man legt sie aus und sie bilden ein Muster?« Sie beschrieb mit der Hand einen Halbkreis.
»Ich glaub schon«, sagte Sorren.
Senta nickte bestimmt. Das Haar ergoß sich über ihr Gesicht. Es schimmerte wie eine Rabenschwinge. »Ich möchte wissen, was das da bedeutet. Sorren ...« – sie blickte auf – »du weißt doch, daß du eine Hexe bist, oder? An dem Nachmittag, als wir uns am Brunnen begegnet sind, als ich mit Kim Batto spazieren ging, habe ich dich berührt, und du hast es gespürt. Bist du deswegen weggelaufen?«
Sorren nickte. Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust bis hinauf zum Hals.
»Wie alt bist du?« fragte die Hexe.
»Siebzehn. Im Frühling werde ich achtzehn.«
»Wie alt warst du, als deine Mutter starb?«
»Dreizehn.«
»Und wann hast du die Begabung zum erstenmal in dir gespürt?«
»An dem Tag, an dem ich von der Beerdigung meiner Mutter in die Stadt zurückgekehrt bin«, sagte Sorren.
»War deine Mutter eine Hexe?«
»Ich weiß es nicht«, gab Sorren zurück.
»Hast du jemals gesehen, daß sie die Karten benützt hat?«
Sorren schüttelte den Kopf. »Nein, nie.«
Senta sprach: »Laß mich dir gleich sagen, Sorren-no-Kité, daß ich dir nicht dabei helfen kann, deine Hexengabe beherrschen zu lernen. Du hast nicht die Innere Sprache – du nennst es Wahrheitsfinden. Ich vermute, du bist eine Fernreisende. Sag mir, hast du jemals Visionen oder lebhafte Träume von Orten, an denen du noch nie gewesen bist?«
Sorren sagte: »Ja. Ich sehe eine Burg im Norden, eine Bergfeste, genannt Tornor Keep. Und ich will dorthin gehen, sobald ich frei bin.«
Senta schien erfreut zu sein. »Aber dann hast du dich ja schon mit deiner Begabung befaßt, sie ausprobiert! Warum bist du nicht schon früher in den Tanjo gekommen?«
Sorren sagte: »Ich will keine Hexe sein.«
»Das ist nicht etwas, was man sich aussucht«, sagte die Wahrheitsfinderin. »Genauso wenig, wie du dir aussuchen kannst, nicht so groß zu sein.« Sie strich über das weiße Gewand. »Aber ich versichere dir, es ist gar nicht so schlimm.«
Marti Hok hatte gesagt, daß man sie hier nicht festhalten können würde. »Ich will in den Norden!«
»Norden,
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