Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Sie hatte keine Möglichkeit, gegen den Mann vorzugehen; der Rat der Stadt verfügte über keine Autorität über den Weißen Clan. Doch sie konnte immerhin dafür sorgen, daß er nicht das bekam, wonach er verlangte: einen Wahrheitsfinder im Rat. Isak? dachte sie plötzlich. Was mache ich nur mit Isak?
Vielleicht, dachte sie, vielleicht ist es meine Schuld, daß er so ist, wie er ist – ein Lügner, verantwortungslos. Ich habe ihn nicht wie meinen Erben und Nachfolger behandelt. Ich habe an den Ratssitzungen teilgenommen, als ich siebzehn war; vielleicht sollte ich für ihn tun, was unsere Mutter für mich getan hat? Sollte ihn dabeisein lassen, sei es nur, um zuzuhören. Vielleicht ist es, weil ich ihm nicht traue, daß er das tut, was er tut? Wenn ich ihn zum Rat einladen würde, ihn um Rat fragen würde, ihm den Einfluß geben würde, nach dem ihn so verzweifelt verlangt, würde er dann nicht vielleicht wachsen und sich ändern?
Ich sollte ihm vielleicht einen Geschmack geben von dem, was ich Tag für Tag tue, ihn einen, zwei Monate lang den Bezirk regieren lassen. Dann stellt er vielleicht fest, daß Abwasserkanalisation und kleine Diebereien und Drainage wenig aufregend sind.
Und du, Arré Med, wohin würdest du gehen? dachte sie. Auf die Weinfelder, um Myra Gesellschaft zu leisten? Drei Tage in den Weingärten würden dich zu Tränen langweilen!
Aber wohin dann?
Und dann wußte sie es plötzlich, und sie mußte lachen. Rasch schritt sie durch den Hinteren Hof, hielt kurz in der Küche und befahl Lalith, ihr eine Schale Wasser zu bringen, dann ging sie in ihr Arbeitszimmer.
Sie wußte nun, wohin sie gehen konnte. Hatte man sie denn nicht eingeladen? Sie legte sich das Schreibgerät auf dem Tisch zurecht, tauchte den Pinsel in die Tusche und schrieb: Von der Lady Arré Med, Kendra-im-Delta, an den Lord Tarn i Nuath Ryth. Sei gegrüßt ...
Sorren ging einkaufen. In den größeren Straßen des Hok-Bezirks sah sie die Narben der Zerstörung, die der Aufruhr hinterlassen hatte: zertrümmerte Fensterschirme, zerschmettertes Glas, die weniger offenkundigen Nachwirkungen in den traurigen Gesichtern der Männer und Frauen, das zornige Gemurmel der Wachtposten. Dreimal kam sie an Häusern vorbei, in denen die Fenster verhüllt, die Fensterflügel zurückgeschlagen waren. Sie konnte durch die weitoffenen Türen das Weinen hören. An einigen Stellen waren die Straßen naß, wo die Straßenfeger das Blut weggeschrubbt hatten.
In einem verwilderten Garten spielten drei Kinder. Eines von ihnen hatte einen Stecken in der Hand und hieb damit auf die beiden anderen ein, als wäre es ein Schwert. Sorren hätte die Kinder beinahe angeschrien, um ihnen zu sagen, daß Schwerter kein Spielzeug sind – doch dann trat ein Mann aus der Hintertür der Kate, sah die Kinder und begann zu schimpfen.
Sorren ging zum Fischhändler. Thule war da, und sein rotes Gesicht war noch röter als sonst. Teilnahmslos hörte er ihrer Bestellung zu. »Was ist los?« fragte sie.
»Soketh ist in den Aufruhr geraten«, sagte der Händler seufzend. Soketh war Mirrims Mann. »Die Heilfrau im Tanjo sagt, er wird wohl einen Arm verlieren.«
Während sie wieder am Tanjo vorbei auf den Hügel zu ging, sah sie die Familienangehörigen derer, die verletzt worden waren, geduldig da warten, um zu erfahren, wann die Mutter, der Vater oder der Onkel wieder nach Hause kommen würden. Die Frage, die sie Arré gestellt hatte, dröhnte durch ihren Kopf. Ganz sicher dachte sie, ganz sicher würden doch die Hexer einen Weg gefunden haben, um dem Aufruhr Einhalt zu gebieten, wenn sie etwas davon gewußt hätten.
Du hättest was davon wissen können, flüsterte eine Stimme in ihrem Hirn. Die Karten hätten es dir verraten können, wenn du sie hättest lesen können.
Aber ich weiß nicht, wie man sie liest, gab sie sich selbst Antwort.
Die Hexenleute hätten es dir beibringen können. Du hättest die Karten zu ihnen bringen müssen, schon vor Wochen.
Sie würden sie mir weggenommen haben.
Das weißt du nicht. Vielleicht hätten sie dir gezeigt, wie man mit ihnen umgeht. Du, Sorren von den Feldern, wärest vielleicht der Schlüssel gewesen für die Erkenntnis des Tanjo, was die Zukunft betrifft. Aber sie wußten nichts von dem Aufruhr und konnten ihn nicht unterbinden, und jetzt sind dreiundzwanzig Menschen tot, und Mirrims Mann verliert vielleicht einen Arm ...
»Nein!« sagte sie laut. Ein paar Leute drehten sich um und starrten sie an und blickten dann
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