Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
eine kurze Klinge gewesen, mit nur einer Schneide. »Willst du mir sagen, daß Kurzschwerter nach dem Geist des Bannes nicht ebenfalls verboten sind?«
Dobrin schüttelte den Kopf. »Das würde ich nicht behaupten wollen. Aber ich sage dir immerhin soviel, daß Kurzschwerter nach dem Wortlaut des Bannes nicht verboten sind.«
Paxes Hals begann zu schmerzen. »Dobrin, wir sind beide keine Schriftgelehrten. Wir sind Kampfmeister. Und unser Eid bindet uns an die Einhaltung der Gesetze. Und wenn wir gegen den Geist des Banns verstoßen, dann brechen wir das Gesetz – und mehr als nur das – wir brechen das chea!«
»Ach?« fragte Dobrin. »Tun wir das?« Wieder neigte er sich vor, und auf seinem Gesicht zeichnete sich plötzlich Leidenschaft ab. »Ich glaube das nicht, Paxe. – Nein, hör mich an! Wir Stadtleute werden von frühester Kindheit an dazu erzogen, dem Hexenvolk Ehrfurcht zu erweisen, zu glauben, daß sie aufgrund ihrer Kräfte der Weisheit näher sind als wir gewöhnlichen Menschen. Und was man vergißt, uns beizubringen, ist, daß sie einfach auch nur Männer und Frauen sind wie du und ich. Was immer ihre Gaben sein mögen, sie sind nur Menschen, und ich glaube einfach nicht, daß sie mehr wissen als du und ich oder sonstwer, oder genauer: was das Gesetz ist oder die Wahrheit – oder das Chea. Mehr wissen, Paxe! Ich glaube einfach nicht länger, daß das Chea von uns verlangt, etwas innerhalb der Tore der Stadt zu tun, und das Gegenteil vor den Toren. Draußen dürfen die Leute scharfe Waffen tragen und verwenden, in der Stadt aber nicht, und die Hexer behaupten, das Chea befiehlt es so. Doch das sichtbare Zeichen für die Anwesenheit des Chea ist Wohlstand und Eintracht unter den Menschen und Völkern, und sieh doch – vor den Stadttoren herrscht ja auch nicht Zwietracht! Es ist hundert Jahre her, seit wir einen Krieg hatten! Wenn der Bann so unumgänglich notwendig wäre, um Arun den Frieden zu erhalten, warum ist dann das übrige Land, das ihn nicht halten muß, so blühend und reich?« Er pochte nachdrücklich auf den Tisch. Paxe hatte ihn immer für schweigsam gehalten, und dieser Überschwang erstaunte sie. Es war die erste und einzige lange Rede, die sie je von ihm gehört hatte.
Einen Augenblick lang wirbelten Paxes Gedanken zurück in die Roten Berge, nach Tors Rest, zu Tyré. Der alte Cheari hatte den Bann verabscheut. »Er ist sinnlos«, hatte er argumentiert. »Wie kann es ein Chea geben für die Städte und ein anderes für Galbareth?« Tyré war schon tot, und er war in ihren Armen gestorben. An dem Biß einer so giftigen Viper, daß sie nicht mehr Zeit gehabt hatten, drei Dörfer weit zur Heilerin zu gehen. Sein Tod hatte Paxe das kaum geheilte Herz erneut gebrochen.
»Dann glaubst du also, der Bann ...«
»Ist von Menschen gemacht«, beendete Dobrin den Satz. »Von den Hexern aufgestellt. Ich nehme an, sie hatten gute Gründe dafür, ihn einzuführen, oder glaubten wenigstens, gute Gründe zu haben, als sie ihn aussprachen. Aber die Welt wandelt sich.«
Eins – und zwei – und drei – und vier!
Das Gesicht des Wächters lächelte heiter durch den Raum. Paxes Mund war trocken. Sie sagte schließlich: »Ich werde Arré Med davon berichten müssen, daß du den Schwertkampf lehrst, Dobrin.«
»Das weiß ich«, antwortete er. »Aber denk an das, was ich zu dir gesagt habe, Paxe. Über das Chea!«
Paxe rieb die Narbe an ihrem Schenkel. Sie konnte sie durch den rauhen Hosenstoff fühlen. Tyré hatte sie ihr beim Üben zugefügt.
»Sei versichert, das werde ich!« sagte sie.
3. Kapitel
Der Rat der Häuser von Kendra-im-Delta trat in diesem Jahr zum drittenmal im Hause der Arré Med zusammen, in der fünften Nacht der dritten Woche des letzten Sommermondes, kurz: im Jahre Einhundertsechsundvierzig seit der Gründung des Rates.
Fünf Familien besaßen Sitz und Stimme im Rat. Ursprünglich waren es drei gewesen; und es konnten auch sieben oder neun Familien sein. Durch die ungerade Zahl wurden Pattsituationen vermieden. Die Oberhäupter der Häuser – oder die von ihnen delegierten Personen – kamen zu den Sitzungen zusammen, die nach festgelegtem Muster jedesmal von Haus zu Haus rotierten.
Arré Med saß am Kopfende des Tischs, der großen doppelflügeligen Tür zugewandt, wie es ihrer Stellung als Gastgeberin im Großen Saal zukam. Zu Ehren des Anlasses trug sie ein neues Kleid. Ein Hemd und eine Tunika aus blauer und silberner Seide. Sie stocherte in ihrem Nachtisch
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