Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
herum und lauschte mit halbem Ohr den Worten von Boras Sul, der es sich anders überlegt hatte, in letzter Minute, und doch noch selbst erschienen war. Er pries überschwenglich eine goldene Schale, die ihm einer seiner bevorzugten Händler aus Tezera verschafft hatte. Er trug rote Kleidung, und das ließ ihn noch korpulenter erscheinen, als er tatsächlich war. Nicht zum erstenmal kam Arré zu dem Schluß, Boras sei ein Langweiliger, ein Gierhals und ein Narr.
Sie hatten sich früh zu Tisch gesetzt und aßen nun – Arré blickte zu der Stundenkerze in ihrer Nische hinüber – schon fast zwei Stunden lang. Die Fischgräten häuften sich auf dem Tisch. Sorren stand an der Tür. Sie hatte das Servieren überwacht, so wie der Direktor einer reisenden Gauklertruppe seine Akrobaten und Jongleure überwacht, und sie hatte ihre Sache gut gemacht. Die Ratssitzung begann offiziell, sobald das Mahl beendet war. Arré gab Sorren ein Zeichen, daß sie nun die Platten vom Tisch abräumen lassen könne.
Als das Mädchen sich niederbeugte, um ihren Teller zu nehmen, fragte Arré leise: »Ist die Schreiberin da?«
Sorren nickte. »Sie sagt, du solltest sie bitte nächstesmal nicht in der Halle warten lassen, weil ihr die Knie wehtun.«
Arré gluckste. Die Schreiberin war – schon seit fünfzehn Jahren – ein jähzorniges altes Weib namens Azulith-no-Alis. »Hol einen Stuhl für sie!«
»Das habe ich bereits.«
»Gut, mein Kind.« Arré gab ihren Teller frei. »Und mein Bruder?«
»Er ist vor ein paar Augenblicken eingetroffen.«
»Wo hast du ihn hingeschickt?«
»In das kleine Zimmer drüben überm Gang.«
»Schön. Wenn wir uns zu den Sesseln begeben, bring Gläser und zwei Karaffen von dem Nordlandwein.« Sorren nickte in halber Verbeugung mit dem Kopf.
»Arré, Liebste, du übertriffst dich jedesmal selbst mit deiner Küche«, stöhnte Boras und räkelte sich bequem in seinem Sessel zurecht. Der Stuhl krachte. Er wedelte mit der Hand durch die Luft und legte sie dann vorsichtig auf seinen Bauch. »Ich mache deinem Küchenchef mein Kompliment.«
»Ich werde nicht versäumen, es ihm auszurichten«, sagte Arré.
»Ich hab' mir grad überlegt ...« – Boras zögerte mit dem Gehabe eines Mannes, der fürchtet, eine Taktlosigkeit zu begehen –, »ob er mir eventuell sein Flundernrezept verraten würde?«
»Ich werde meinen Koch bitten, es für dich abzuschreiben und in deine Küche zu senden«, versprach Arré und brachte dem Geist ihrer Mutter ein Lächeln dar; ihre Mutter, Shana, hatte sie gelehrt, daß Menschen so viel umgänglicher waren, wenn sie sich die Bäuche gefüllt hatten.
»Die Tafel bei den Med war stets eine ganz hervorragende«, fuhr Boras, in Verfolgung seines Lieblingsthemas, mit hartnäckigem Ernst fort.
»Ich danke dir«, sagte Arré. Der Hals begann zu schmerzen von all den höflichkeitsbedingten Kopfdrehungen, und sie war sich mit Schrecken bewußt, daß ihr Bruder Isak nebenan wartete.
Sie war müde. Der vorherige Tag (und der zweite davor und drei Tage vor jenem) war mit Besprechungen mit ihren Aufsehern vergangen, den Bauinspektoren, die im ganzen Bezirk Löcher graben wollten wie Kinder in Schlammhaufen, und die nicht fähig schienen zu begreifen, wenn sie darauf beharrte, daß sie zunächst von ihnen einen genauen Plan der systematischen Straßenverbreiterungen zu sehen wünschte, die sie vornehmen wollten. An dem heutigen Tag hatte sie den Gerichtssaal des Bezirks besucht und sich dabei unangemeldet hineingeschlichen, um den Richtern zuzuhören. Sie sehnte sich sehr danach, schlafen zu dürfen. Aber es war natürlich eine vergebliche Hoffnung, wenn sie mit einem frühen Ende der Sitzung rechnete. Zwar hatte sie dem Rat keine neuen Geschäftspunkte vorzubringen, aber irgendeiner würde es bestimmt tun.
Sie blickte über den Tisch hinweg. Marti Hok saß am Fußende, ihr gegenüber, wie es ihr Recht war als Älteste unter den Ratsmitgliedern. Sie war außerdem das Mitglied, mit dem Arré am häufigsten bei der Abstimmung gleichstimmte. Neben ihr, rechts von Arré, saß Kim Batto. Er hielt den Kopf gesenkt, und das Licht schimmerte auf seiner Schädelglatze. Kim war pusselig und oft widerborstig, doch sein Haus besaß enge Verbindungen zum Weißen Clan, und aus diesem Grund war Kim zugleich wichtig und gefährlich. Neben ihm saß Cha Minto, am nächsten neben Arré. Boras saß den anderen zwei Männern gegenüber.
Cha Minto hob nun die Augen von der Betrachtung der Maserung der
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