Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Verschwinden gehalten, doch da sie niemals zurückgekehrt waren nach Kendra-im-Delta, wußte niemand so recht, wohin sie nun wirklich gezogen waren. Die beiden Familien hatten gegeneinander gehadert und sich bekämpft und sich gegenseitig die Schuld an der Tragödie zugeschoben, bis Lerril Hok sie wieder zusammengebracht hatte. Das war so etwa sechzig Jahre nach dem Tode von Ewain Med geschehen. Diese Tat hatte dem Hause Hok den Ruf eingetragen, Friedensstifter zu sein, und sie hatten diesen Ruf niemals verloren.
»Der Rat hört«, sagte Arré.
Die Schreiberin hob den Pinsel. Die Räte, selbst Boras, beugten sich ein wenig nach vorn in ihren kissenbelegten Sesseln, und Arré Med spürte einen Funken von Erregung durch ihre Nerven schießen.
»Es geht um den Handel mit Himmelskraut. Meine Wächter berichten mir, daß er in letzter Zeit beträchtlich zugenommen hat, besonders unter der Asechjugend.«
Die Batto-Familie besaß die Kontrolle über den Handel mit den Asech, deren Händler Gewürze, Perlschmuck, Töpferwaren und Farbstoffe auf allen Stadtmärkten anboten. Für diese Waren erhielten sie Stoffe, Himmelskraut, Futtergetreide für ihre Pferde und Metall- und Lederwaren. Sie betrachteten sich noch immer als Wüstenvolk, doch zog es mehr und mehr von ihnen in die Städte, wo sie lebten und auf den Baumwollfeldern und in den Weingärten arbeiteten. Sie waren zu einer Quelle billiger Arbeitskräfte geworden, die man in Zeiten der Prosperität willkommen hieß und in Zeiten des Mangels und der Dürre scheel ansah und verabscheute.
Arré fragte: »Bringst du eine Klage vor?«
»Das tue ich«, sagte Kim.
»Erhebt ihr nicht eine Steuer auf den Handel?« fragte Marti Hok.
»Natürlich besteuern wir den Verkauf«, knurrte Kim.
»Dann verschafft euch doch die gestiegene Nachfrage einen erhöhten Gewinn. Beklag dich also nicht.«
Kim blickte verärgert drein. »Marti, es gibt wichtigere Dinge als Geld. Du hast den wesentlichen Punkt nicht begriffen. Hast du die Wirkung von Himmelskraut bei deinen Dienstboten bemerkt? Habt ihr sie bei euren Hafenarbeitern, ja selbst bei euren Wachsoldaten bemerkt? Das Kraut macht sie streitsüchtig – und faul! Sie haben plötzlich keine Lust mehr zu arbeiten. Sie lungern den ganzen Tag nur herum und rauchen, und in der Nacht machen sie Aufruhr.«
Marti entgegnete: »Himmelskraut macht die Leute nicht faul, Kim. Falls es dir noch nicht aufgegangen ist, Menschen sind von Natur aus faul! Und, nein, ich kann nicht sagen, daß ich dergleichen Auswirkungen bei meinen Wachen festgestellt hätte, aber schließlich rauchen meine Wachen nicht im Dienst. Tun deine das denn?«
»Natürlich nicht!« sagte Kim.
Azulith murrte: »Es ist leicht zu sagen, daß es wichtigere Dinge gibt als Geld, wenn man es nie entbehren mußte.«
»Azulith, sei still!« befahl Arré automatisch. »Marti, bleib ernst!«
»Oh, aber ich meine es ganz ernst«, sagte Marti. »Möchtest du, daß der Handel eingeschränkt wird, Kim?«
Kim zog die Brauen zusammen. »Also, das möchte ich damit nicht gesagt haben. Mir kam nur der Gedanke, daß schärfere Kontrollen angebracht sein dürften. Ich könnte damit beginnen, daß ich die Lizenzabgaben erhöhe. Dann wären weniger Händler in der Lage, mithalten zu können, und der Umsatz würde fallen.«
Marti sagte: »Das würde dem Blauen Clan aber gar nicht recht sein. Außerdem, wenn du die Abgaben erhöhst, ermutigst du die Leute nur, von Schwarzhändlern zu kaufen. Und das würdest gerade du ja wohl nicht wollen.«
»Nein«, sagte Kim. »Das nicht!«
Arré nahm das Wort: »Cha, was hältst du vom Handel mit Himmelskraut?«
Der junge Ratsherr starrte sie verwirrt an. »Ich bitte um Vergebung«, sagte er automatisch. »Ich hab' nicht zugehört. Aber ich bin sicher, Kim wird schon das richtige tun.«
Kims Gesicht spiegelte den Zwiespalt seiner Gefühle wider, die Freude über das Lob und die Verärgerung über Chas Unaufmerksamkeit.
Arré sagte: »Gibt es zu diesem Punkt noch Wortmeldungen?«
Keiner sprach. Boras Sul räusperte sich unheilverkündend. »Ich habe eine Erklärung abzugeben.«
Marti Hok seufzte.
»Der Rat hört«, sagte Arré.
Boras beliebte über Geld reden zu wollen. Seit dem vierunddreißigsten Jahr nach der Gründung des Rates hatte man in Kendra-im-Delta die bontas als Zahlungsmittel verwendet, jene geschliffenen Muschelscheiben, um mit ihnen, statt mit Gold und Silber, Käufe und Verkäufe zu tätigen. Münzprüfer saßen an allen acht
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