Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
so angenehm an, daß sie befürchtete, sie könne gleich hier und jetzt einschlafen.
Sie bewegte den verletzten Arm, damit der Schmerz sie wachhielt. Arré rieb sich die Augen. »Und was nun?« sagte sie.
Paxe sagte: »Laß mich gehn, ich kriege ihn!«
Arré sagte: »Er ist Angehöriger eines Adelshauses. Du müßtest eine Order vom Rat haben, oder er braucht sich überhaupt nicht vom Fleck zu rühren.« Man hatte ihr nicht erklären müssen, wen Paxe mit »ihn« gemeint hatte.
Ein kurzes Aufflammen der Reste der Wut, von der Paxe in Arrés Schlafzimmer besessen gewesen war, ließ sie erschauern. »Das möchte ich sehen, wie er sich gegen mich wehrt«, sagte sie rauh. »Auch mit einem Arm!«
Arré sagte hastig: »Nein! Er – Myra ist dort. Und die Kinder!«
Der Himmel im Osten wurde langsam fahl. Unter den Fenstern begannen die Karren zu rumpeln. »Er braucht ja nichts zu merken«, erklärte Paxe. »Wenn sein Plan gelungen wäre, würde ich dann jetzt nicht auch zu seinem Haus gehen, ihm von deinem Tod berichten und ihn fragen, was zu tun sei? Laß ihn doch im Glauben, daß es gelungen ist, bis ich ihn aus seinem Haus herausgeholt habe.«
Arré zog Sorrens Hemd enger um die Schultern, als wäre es eine warme Decke. »Nun gut«, sagte sie. »Mach es so!«
»Schön«, sagte Paxe. Sie hatte Schmerzen, und sie wünschte, sie müßte sich nicht bewegen. Sie seufzte, unternahm eine willentliche Anstrengung und stand auf.
»Was wirst du mit ihm machen?« fragte Sorren.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Arré.
»Und mit Ron Ismenin?«
»Ron Ismenin?« fragte Arré erstaunt. »Was ist mit dem?«
»Er war auch dabei«, sagte das Mädchen. »Ich hab' ihn aus dem Zelt kommen sehen, bevor ich die anderen Stimmen hörte. Er hat mich nicht gesehen.«
»Ron Ismenin«, sagte Arré. »Dieser ... dieser ...« Die Worte fehlten ihr. Sie bearbeitete eines ihrer silbernen Armbänder – das breite mit dem blauen Stein –, zog es über die Hand und reichte es Sorren. »Hier, mein Kind, nimm dies mit! Damit kommst du durch die Posten. Geh in den Hok-Bezirk und bring mir Marti Hok her!«
Eine Stunde später stand Arré im kleinen Salon ihrem Bruder gegenüber.
Sie war nicht allein mit ihm: Paxe und einer der Posten waren gleichfalls anwesend. Arrés Knie bebten, und sie zwang sie durch eine starke Willensanstrengung zur Ruhe. Mein kleiner Bruder, dachte sie. Sie blickte zu ihm hinüber, versuchte in seinem hübschen, bösen Gesicht den kleinen Jungen wiederzufinden, mit dem sie gespielt hatte, den sie geliebt hatte. Sie erkannte, wie immer, Riat in ihm. Er hatte sich hastig angekleidet, war ohne die Juwelen, die er gewöhnlich trug; Paxe hatte ihm erklärt, sie, Arré, sei tot, und er hatte sich angezogen, was gerade dalag, und war mitgegangen und hatte Myra und die Kinder in friedvoller Unwissenheit weiterschlafen lassen. Er rieb sich die Handgelenke wie geistesabwesend, aber seine Augen wichen nicht einen Augenblick lang von den ihren, und sie sah die roten Druckspuren der Stricke an seinen Armen. Paxe hatte gesagt, daß er sich nicht gewehrt habe, warum also hatte sie ihn dann gefesselt?
»Also?« fragte er, und sie überlegte sich, wie es auf ihn wirken mochte, daß er sie da so lebendig vor sich sah und erkannte, daß sein Anschlag ins Leere gelaufen war.
»Warum?« fragte sie ihn. »Warum denn nur auf diese Weise?«
»Ach, es war ein letzter Ausweg«, sagte er. »Ich hätte es nie getan, wenn du bereit gewesen wärst, die Ismeninas in den Rat aufzunehmen.«
»Sie haben also davon gewußt?«
»Nicht im Detail«, antwortete er. »Sie haben dafür bezahlt, ohne zu wissen, für was sie bezahlten. Aber zu einem späteren Zeitpunkt hätte ich es ihnen dann gesagt. Vielleicht. Oder sicher.«
Es war die gleiche Taktik, die er bei Cha Minto angewendet hatte. »Wie hast du Ron Ismenin dazu gebracht, dir Geld zu geben?«
»Wir haben gewettet«, sagte Isak, ohne eine Miene zu verziehen, »und er hat verloren.«
»Und worum habt ihr gewettet?«
»Ach, etwas ganz Unwichtiges.«
Sie bezweifelte das. Doch sie konnte – und sie würde – sich später um Ron Ismenin kümmern. »Hätte der Rat die Stadt spalten sollen, nur um deinem Ehrgeiz zu dienen?«
Ein Lächeln flackerte über seine Züge. »Du hast nie etwas begriffen«, sagte er.
Einen Augenblick lang, da sie sich so müde und voll von seelischem Schmerz fühlte, haßte Arré ihn. Immer war er der Schöne gewesen; von rascherem Geist als sie, weicher als sie,
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