Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Erde, als sie aus dem Gehölz aufbrach. Sie machte die Augen schmal gegen das blendende Flimmern.
24. Kapitel
Es war Mittag, als Sorren Tornor Keep erreichte. Unbezwingbar und drohend stand die Festung vor der Eislandschaft im trüben Mittagslicht. Die Burg war größer als der Tanjo, viel größer als das Haus der Ismeninas. Die Ebene vor ihr war von Schneeplacken bedeckt und von runden, glatten Steinen übersät, wie wenn ein Riese versucht hätte, auf dem unfruchtbaren Land eine zweite Bergkette zu pflanzen.
Sorren, den Wanderstab in der Hand, suchte sich ihren Weg zwischen den Steinblöcken hindurch. Immer mächtiger ragte die Burg auf, je näher sie herankam. Sie sah das Tor des Äußeren Festungswalls, es war zertrümmert, und sie sah auf den Zinnen eine Fahne wehen, die den roten achtzackigen Stern auf weißem Feld zeigte: Tornor. Sie löste die Verschnürung ihrer Kapuze und schob sie zurück, sie achtete nicht des bitterbeißenden Windes, sie suchte den Stoff, aus dem ihre Traumvisionen waren: Wachen, Schafe, den Wachtturm. Wo war der Wachtturm geblieben? Sie sah ihn nicht. Sie starrte, bis ihr die Augen tränten.
Aus der Burg dampfte ein dicker Rauchstrang in die Höhe. Sorren packte ihren Stab fester und eilte auf die Trümmer des Torhauses zu. Sie ging über die hölzerne Brücke, die den vereisten Fluß überspannte. Auch die Brückenbohlen waren von Eis überzogen, und der Wanderstab kam ihr hier gut zustatten. Mitten auf der Brücke hielt sie inne und schaute den Fluß hinab. Das Eis wirkte fest, war aufgeworfen und verfärbt, und dennoch konnte Sorren durch es hindurch das lebendige Wasser, schwarz und pulsierend vor Bewegung, in die Richtung schießen sehen, aus der sie gekommen war: durch die Tezeraner Marsch, durch Galbareth, an Hügeln und Obstgärten und Baumwollfeldern vorbei, bis zum Südlichen Meer.
Sie näherte sich dem Tor noch mehr.
»Halt!« rief eine Stimme.
Sorren hielt in ihrer Bewegung inne. Langsam streifte sie den Eingang mit ihrem Blick und suchte die Person zu entdecken, die sie gerufen hatte. Aus dem Gewirr zertrümmerter Steine an dem geschleiften Tor löste sich eine Gestalt. Als sie näher herankam, erkannte Sorren, daß es ein Junge war. Er war schlank, die helle Haut war wettergerötet, und seine Augen waren blau, blau wie die Farbe des Lapislazuli, blau wie der Stein in ihrem Armreif. Seine Haare waren eine verfilzte Mähne, und er trug Pelze mit der Fellseite nach außen. Seine Hände waren behandschuht, aber leer.
»Wer bist du?« verlangte er zu wissen. »Wohin führt dein Weg?«
»Ich heiße Sorren«, antwortete sie. »Ich komme aus dem Süden.«
»Das kann ich sehen«, sagte der Junge. »Deine Stiefel sind aus Nuath. Bist du eine Botin?«
Sorren dachte an die Botschaft, die sie von Tarn Ryth im Gedächtnis mit sich trug. »Ja.«
»Das habe ich mir gedacht. Bist du allein?«
Sorren grinste und wies mit dem Daumen über die Schulter auf die Spuren, die sie auf dem Feld hinterlassen hatte. »Siehst du sonst noch jemanden?«
Er gluckste. »Nein.« Er strähnte sich mit beiden Händen das Haar. Sorren überlegte sich, wie alt er wohl sein mochte – sie nahm an, elf oder zwölf, kaum älter. »Kannst du damit umgehen?« fragte er und wies auf ihren Bogen.
Sie nickte. Der Wind biß, und sie erschauderte, als die Wärme aus ihren Muskeln zu weichen begann. »Bist du der Wachtposten der Burg?« fragte sie.
Er grinste seinerseits, geschmeichelt. »Ja! Manchmal«, sagte er einschränkend. »Hast du meine Schwester getroffen? Sie ist zu Pferd unterwegs.«
»Ich bin niemandem begegnet«, antwortete Sorren.
»Lauf ist bei ihr. Komm mit!« sagte er und machte eine Kopfbewegung. »Das Tor ist aufgezogen.« Sorren folgte ihm, stieg behutsam durch die Trümmer des zerstörten Torhauses, durch zersplittertes Holz und verrostete Eisenstücke.
Selbst ohne das Tor wirkte der Torbogen im Äußeren Wall furchteinflößend. »Meine Mutter ist im Burghof«, sagte der Junge. Er stapfte auf das Innere Tor zu. Es war von zwei kleinen Wächterhäuschen flankiert. Das Fallgitter war hochgezogen und in dieser Stellung eingerostet, und es erinnerte Sorren, während sie unter ihm hindurchschritt, an ein Maul voll gezackter eiserner Spitzzähne.
Sie ging hinter ihrem kleinen Führer her zum Inneren Burghof. Dort fegte eine Frau den Boden. Der Knabe rannte auf sie zu. »Mutter!« Und er flüsterte ihr aufgeregt etwas ins Ohr. Die Frau hob ihren Besen auf und kam um einen Berg
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