Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
toten Laubs und Dungs herum auf Sorren zu. Auch sie war klein, und ihr Körper wirkte untersetzt unter dem baumwollenen Steppanzug und der Pelzjacke, die sie trug. Das Gesicht war breit, die Haut fahl und die Augen farblos.
Ich sollte etwas sagen, dachte Sorren. Ich bin hier die Fremde.
»Sei gegrüßt«, sprach die Frau. »Und sei willkommen auf Tornor Keep!«
Sie hatte eine angenehme kehlige Stimme. Ihr Haar war lang und von hellem Braun, und sie trug es ungeflochten in den Kragen zwischen Hemd und Jacke gestopft.
»Es ist eine böse Zeit jetzt, um hier im Norden zu reisen.«
»Ich weiß«, antwortete Sorren. »Als ich aus dem Süden aufbrach, war noch Sommer.«
»Du kommst aus dem Süden?«
Sorren lehnte sich auf ihren Stab. »Aus Kendra-im-Delta«, sagte sie. Dem Knaben blieb vor Verblüffung der Mund offenstehen.
»Das hast du mir ja gar nicht gesagt«, maulte er.
»Ryke«, sagte die Frau mit sanftem Verweis, »es zeugt von schlechten Manieren, wenn du sie nicht ihre Geschichte erzählen läßt, wie es ihr beliebt.«
Der Junge wurde kirschrot im Gesicht.
»Bist du zu Fuß gekommen?« fragte die Frau.
»Den größten Teil«, antwortete Sorren. »Ein paarmal bin ich auf Wagen mitgefahren. Aber seit dem Aruna-See bin ich meist zu Fuß gegangen.« Der Wind stieß herab und bewegte den Laubhaufen.
»Und zu welchem Ziel führt dich deine Fahrt?« fragte die Frau.
»Hierher«, sagte Sorren. »Hierher nach Tornor Keep.« Sie ließ die Augen von der Fragenden fort und über den Hof gleiten. Er war leer – leer wie eine Muschelschale, wenn der Seekrebs sich ein neues Haus gesucht hat. Das Banner klatschte mit einem Laut, der fast ein Wehklagen war, gegen die Mauer.
»Nur wenige Reisende aus dem Süden mühen sich so weit in den Norden herauf«, sagte die Frau und lehnte den Besen gegen die Wand. »Ryke, geh und sage Meg, daß wir einen Gast haben! Und bitte Innis, sie soll Wasser heißmachen.« Der Junge nickte und rannte davon. Die Frau schaute hinter ihm drein, und ihr Gesicht war auf einmal ganz weich geworden.
Dann hustete sie; in der Stille der Burg klang das Geräusch hart und störend. »Wie lautet dein Name, Fremdling?«
»Sorren-no-Kité.«
Die Brauen der Frau hoben sich. Das Mienenspiel erinnerte Sorren an Arré. »Sorren? Das ist ein berühmter Name; berühmt zumindest in Tornor. Anderwärts wohl vergessen. Genau wie Tornor.«
»Ich hab' Tornor nicht vergessen.«
»Viele taten es«, sagte die Frau ernst. »Denn was bedeutet schon eine Festung, wenn es nichts zu schützen gibt. Wir haben hier keine Garnison mehr. Es ist eine lange Zeit her, seit der Norden etwas besaß, das Arun brauchte oder haben wollte. Aber das könnte sich ändern«, fügte sie geheimnisvoll hinzu. »Mein Sohn sagte, du bringst eine Botschaft?«
»Ja«, sagte Sorren. »Sie kommt von Tarn Ryth von Nuath und ist an die Lady Merith gerichtet.« Sie blickte zu den inneren Gebäuden hinüber und überlegte, in welchem davon die Lady von Tornor leben mochte. Sie stellte sie sich als eine kleine bleiche Frau vor, die sich irgendwo hinter den dicken Mauern versteckte.
Die Frau lächelte, und die Fältchen um ihre Augen vertieften sich. »Ich bin Merith.«
Sorren blieb der Mund offenstehen. »Ich hab' gedacht, du bist eine Magd?«
Die Herrin von Tornor lachte. »Weil ich einen Besen schwinge? Ich arbeite. Alle arbeiten hier.« Sie nahm den Besen wieder in die Hand, und Sorren bemerkte erst jetzt den Ring, den sie an der Linken trug. Es war ein tiefroter Stein in einer Fassung aus einem gelben Metallband, und er wirkte sehr alt.
Sorren faltete die Hände zusammen und verneigte sich. »Meine Herrin!« sagte sie.
Wieder hustete die Frau. Merith. Ein nasses, reißendes Geräusch, das Sorren an Kadra erinnerte. »Komm mit hinein! Komm rein, und dann kannst du mit mir reden! Ich nehme an, ich muß mir deine Botschaft anhören. Und ich bin neugierig, was dich aus Kendra-im-Delta hierherführt. Ich bin sicher, es war nicht so, daß du nur eine Botschaft von Tarn Ryth bringen solltest.« Den Wanderstab in der Hand, folgte Sorren der Lady von Tornor Keep über den Burghof. Links erhoben sich dunkle Steingebäude mit einem Karo von lädenbewehrten Fenstern. Einige der Fensterläden waren zurückgeschlagen. Aber die meisten hingen lose in den Angeln und schlugen im Wind kreischend gegen das Mauerwerk. Direkt vor ihr ragte eine Halle auf. Rechts lag ein Brunnen und ein weiteres Gebäude, das, wie Sorren vermutete, früher einmal eine
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