Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Familie, der Tornor Keep erbaut hat.« Sie lächelte Sorren zu. »Es schockiert dich, daß ich nachdenken muß, um mich an diese Namen zu erinnern? Tornor liegt sehr abgeschieden, Sorren-no-Kité. Ich bin zwar in Tezera gewesen, und zweimal in Nuath, aber nie weiter im Süden von Nuath, und keiner hier im Haus war jemals in Kendra-im-Delta.«
»Wieviele Menschen umfaßt dein Haushalt?« fragte Sorren.
»Zehn insgesamt«, sagte Merith. »Dabei habe ich die Pferde schon mitgezählt. Ich, Ryke und Kedéra, Sark, Meg, Juli, Megs Hilfe, Innis, Megs Schwestertochter, die saubermacht, und Embri, der überm Stall haust. Einmal jedes Jahr kommt meine Schwester aus Elath zu uns zu Besuch.«
»Deine Schwester ist eine Hexe?«
»Ist sie. Seit dreißig Jahren lebt Miella jetzt schon in der Hexenstadt. Sie ist eine Wettermacherin.«
Ryke kam aus der Küche in den Saal geschossen. »Sark sagt, ich darf ihm das Schwein schlachten helfen!« sagte er atemlos.
»Komm her zu mir!« befahl seine Mutter. Er trat neben sie. Sie strich ihm glättend übers Haar. »Denk daran, tu genau, was er dir aufträgt.«
»Jawohl, Herrin.« Und im Augenblick, in dem sie die Hand fortnahm, rannte er auf die Tür zu.
»Wie alt ist er?« fragte Sorren, als er sicher außer Hörweite war.
»Elf.«
»Ihm scheint die Abgeschiedenheit hier nichts auszumachen.«
»Nein. Er verbringt viel Zeit unten im Dorf. Aber Kedéra, die leidet darunter. Sie ist – unzufrieden. Und ich weiß nicht, was sie glücklich machen könnte.« Meriths Stimme war weich geworden und leise, daß Sorren sie fast nicht mehr hören konnte.
Sie aß weiter von dem Fleisch. Es hatte einen fremdartigen Geschmack, so als wäre es beinahe, aber nicht ganz verdorben. Arré pflegte niemals derart abgelagertes Fleisch zu speisen. Und auf einmal sah Sorren die Burg mit Arrés Augen, sah sie als eine große, kalte und ungemütliche Ruine. Niemals würde Arré an einem solchen Ort verweilen.
»Warum bleibst du hier?« fragte sie.
Merith antwortete: »Weil ich hier geboren bin und weil dies meine Aufgabe ist.« Ihre Stimme wurde lebhafter. »Warum bist du hier? Deine Mutter war eine Arbeiterin im Weinberg, aber deine Familie stammt aus Tornor, hast du gesagt. Wie willst du das wissen?«
Sorren stützte die Ellbogen auf den Tisch. So schlicht es ging, erzählte sie von ihren Visionen und von den Besuchen bei Marti Hok und bei den Hexern und von ihrem eisigen Entschluß, nach Norden zu wandern, sobald die Zeit ihrer Dienstbarkeit vergangen war.
Merith lauschte und trank dabei immer wieder von ihrem Wein. Als Sorren schwieg, sagte sie: »Das klingt wie eine Legende, wie eine Sage.« Sie lächelte verstohlen. »Befänden wir uns wirklich in einer Legende, dann müßte ich jetzt zu einer feierlichen Rede ansetzen und eine lange verlorengeglaubte Tochter in ihrem Mutterhaus begrüßen. Aber es gibt hier nicht viel Begrüßenswertes. Ich fürchte, deine Visionen haben dich getrogen, wie es denn bei derlei Dingen oft geschieht. Was immer du suchen magst – Ruhm, Glanz, Heldentum –, hier hausen sie nicht länger, wenn es sie jemals hier gab, was ich bezweifle.«
Sorren sagte: »Aber ich suchte ja nicht nach Ruhm und Glanz.« Sie fuhr mit dem Daumen über die angelaufene Schüssel und fragte sich, ob ihre Namensschwester jemals an diesem Tisch auf dieser Bank gesessen oder ob sie diese Schale in der Hand gehalten hatte.
»Würdest du mir deine Karten zeigen?« bat Merith.
Sorren fühlte sich seltsam gehemmt, sie hervorzuholen. Doch dann grub sie dennoch in ihrem Sack herum und stellte das Kästchen auf den Tisch. Merith hob den Deckel und faltete die Seide über dem Tänzer auf. Während sie das Bildnis betrachtete, wurde ihr Gesicht weich, wie zuvor, als sie auf ihren Sohn geblickt hatte. »Ja«, sagte sie dann und hob den Tänzer heraus, um auf die darunterliegende Karte zu starren. »Die Farben – wie frisch sie aussehen. Wie alt, sagst du, sind sie?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Sorren. »Alt.«
Merith hustete wieder und faßte das Kästchen mit beiden Händen. »Es ist seltsam, wenn man sich vorstellt, daß solch zerbrechliche Stückchen Pergament die Kraft besitzen sollen, Visionen hervorzurufen.« Sie blickte Sorren flüchtig von der Seite her an. »Sind dir irgendwelche Visionen gekommen, seit du durch das Tor getreten bist?«
»Nein. Aber die Hexenleute haben mir gesagt, daß es so kommen könnte. Wenn man am Ziel ist, hat einen die Kraft verlassen.«
»Und du
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