Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
so hatte sie gehört, begannen immer in Bergen.
Berge, die gab es im Westen; Paxe war dort gewesen, aber sie redete kaum jemals von ihnen. Aber es gab auch Berge im Norden, und sie glaubte einfach, daß es diese Nordberge waren, die sie sah. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Was wäre, wenn das Schloß mit dem Turm, der das Wesentliche ihrer Traumvision war, wirklich solch eine »Grenzfeste« war? Sie setzte sich aufs Bett. Ihre Finger pochten weiter. Vielleicht hatte ihre Mutter sie »Sorren« genannt, mit gutem Grund, um zu betonen: »Du bist anders. Du bist aus einem andern Land.« Sor-ren von Tor-nor. Pah-pah-a-dam-pah. Bei der Traubenlese auf den Feldern hatte sie geträumt, eine andere zu sein, nicht solch eine armselige Arbeiterin im Weinberg, etwas Wunderbares, eine Prinzessin. Darum war sie bereitwillig mit Arré gegangen, ohne auch nur einmal zurückzublicken, weil sie ganz insgeheim hoffte, Arré werde sie zu einer Prinzessin machen. Jetzt erschienen ihr derartige Wunschträume als sehr töricht. Aber alle Kinder haben irgendwann solche Träume.
Und dennoch, es konnte wahr sein. Sie wünschte es sich so sehr. Selbst wenn sie keine Prinzessin war, sie wäre doch gern eine gewesen. Sie überlegte, was Paxe dazu sagen würde, wenn sie es ihr berichtete. Wenn sie zur Kate hinüberginge, jetzt sofort – doch Paxe würde vielleicht schlafen, und außerdem konnte Ricard dort sein. Sorren schaute stirnrunzelnd aus dem Fenster zum Mond hinauf. Sie hatte keine Lust, mit Ricard zu reden.
Sie entdeckte eine dickverfilzte Locke im Haar und begann daran herumzuzausen. Als sie das strähnige Haar endlich mit den Fingern gelöst hatte, wühlte sie in ihrer Truhe nach der Bürste mit dem Schildpattrücken, die Arré ihr geschenkt hatte, und bürstete sich wütend das Haar, bis es Funken sprühte.
Als sie die Bürste beiseite legte, überwältigte sie die Vision. Bilder stiegen hinter ihren Augenlidern auf. Der Raum verschwand; sie sah die Burg, sah den Wachtturm. Das Bauwerk veränderte sich, es schrumpfte, wurde größer, je nachdem, wie ihr schweifender Geist sie näher oder ferner rückte. Die Sterne schlugen eine Brücke über die Welt. Auf den Mauergängen flammten Fackeln; die Luft war rein und trocken und kalt. Sie verharrte schwebend, plötzlich, vor dem geöffneten Fenster des Turmes. Ein Mann – oder ein Jungmann, ein Knabe, denn er sah sehr jung aus – saß in dem vieleckigen Raum. In einer Hand hielt er eine Feder. Die andere Hand war nicht vorhanden – es gab gar keine zweite Hand, wurde Sorren klar. Er besaß keinen rechten Arm mehr, erschien an der Schulter abgeschnitten zu sein. Der bestickte Ärmel hing leer herab.
Das kleine Gesicht verschwamm. Die Vision verblich. Sorren fröstelte. Gänsehaut lief ihr über die Arme. Sie stand auf und schob den Fensterschirm zu. Dann ging sie in die Küche hinunter. Das Mondlicht versilberte die Töpfe und ließ sie wie Schätze erscheinen. Sie ging durch den hinteren Hof zu Paxes Kate hinüber. Die Tür war nicht verriegelt. Vorsichtig stieß Sorren sie auf. Ricard war nicht da. Von ihrem Schlafplatz auf einem Kissen hob die Katze den schmalen Kopf und starrte sie ruhig an.
Nackt kletterte sie in Paxes Bett. Starke Arme ergriffen sie und hielten sie fest. »Chelito!« murmelte Paxe schläfrig.
Sorren legte die Wange auf Paxes Brust. Das Lager, das sie mit der Geliebten teilte, war warm und angenehm und spendete Sicherheit wie eine Höhle. Zufrieden drängte sie sich an Paxes glatte Haut.
Sie erwachten früh, die Sterne leuchteten noch stark am Himmel, und sie liebten einander. Sorrens Haar knisterte und sprühte in dem halbdunklen Raum um ihren Kopf wie die Funken eines Freudenfeuers. Sie beschrieb ihre Vision und erzählte Paxe dann, was Marti Hok gesagt hatte. »Was hältst du davon?«
Die Katze kam, rollte sich auf den Rücken und forderte gebieterisch, daß man sie streichle. Paxe rieb ihr den weichen, weißen Bauch mit der Zehe. »Das ist interessant«, sagte sie.
Sorren war enttäuscht. Aber auf Paxes Gesicht lag ein Ausdruck, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Das Dämmerlicht glomm schwach wie der Atem eines Säuglings durch die Fensterschirme und überzog den strengen Raum mit einem winterlichen Hauch.
»Warum starrst du mich so an?« fragte Sorren.
»Weil ich dich liebe«, antwortete Paxe.
Sorren grinste. Sie hob Paxes Hand hoch und schob die Zunge in die warme Öffnung ihrer Faust. »Einmal möchte ich mit dir ins Bett
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