Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
ist in ihm nichts Bösartiges.«
Zu ihrer eigenen Überraschung spürte Paxe, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ja«, stammelte sie. »Aber wenn du ihn siehst, dann sag ihm, er soll heimkommen.«
Der Tischler Perrit hatte seine Werkstatt im Hokbezirk, vom Medbezirk aus quer durch die Stadt fast eine Stunde Fußmarsch entfernt. Die Sonne, die rasch den Horizont heraufgerollt kam, begann allmählich das Katzenkopfpflaster zu erhitzen. Paxe beschloß, ihre übliche Routine zu durchbrechen und nach Osten zu gehen. Ihr Magen rumpelte, und sie dachte daran, daß sie noch nichts gegessen hatte. Ein Knabe kam vorbeigeschlendert. Er trug Kirschen in einem Korb, und sie rief ihn an. »Was ist dein Preis?«
»Ich verkaufe sie nicht, Hofmeisterin«, sagte das Kind, und seine Augen zuckten nervös von einer Seite zur anderen. »Ich bring sie meiner Oma. Ich hab' sie am Stand von Seri gekauft, das ist da unten, zwei Straßen weit ...«
Paxe hob die Hand, um seinem Geschnatter Einhalt zu gebieten. »Schon gut, schon gut. Zieh los!« Sie wanderte die Straße der Wollkämmer hinunter und wechselte in den Mintobezirk hinüber. An einem Stand in der Nähe des Tanjo kaufte sie sich Fischkuchen; sie schwatzte eine Weile mit dem Verkäufer, und es gelang ihr, ihm ein Glas Wein abzuluchsen.
Er erzählte ihr alles über den Kampf beim Dock. »Vierzig Verletzte!« sagte er mit genüßlichem Entsetzen.
»Sieben«, berichtigte sie ihn. »Nur sieben!«
Er blickte enttäuscht drein. Während sie dann weiterging, lauschte sie auf die Gespräche der Passanten. Sie sprachen von den Kämpfen und von dem bevorstehenden Herbstfest. Dreimal während ihres Streifzugs durch den Mintobezirk sah Paxe auf den Straßen alte Männer über Strohhalme gebeugt aus den Mustern der Stäbchen lesen. Man glaubte, aus diesen Mustern die Zukunft herauslesen zu können. Aber es war ni'chea, das Orakel zu befragen; der Weiße Clan hatte das vor vielen Jahren so entschieden, doch immer, wenn sich in der Stadt Beunruhigendes tat, tauchten diese Strohmeister wieder auf.
Der Markt schien noch voller als sonst zu sein. Auch schmutziger, als ob die Straßenfeger ihre Arbeit nicht getan hätten. Der Duft von Himmelskraut hing dick in der Luft. An einer sehr belebten Straßenecke glaubte Paxe ihren Sohn zu sehen. Doch als sie an die Stelle gelangte, wo sie ihn erblickt zu haben glaubte, war niemand da, der auch nur entfernt so aussah wie Ricard.
Ein Bettler streifte sie winselnd. Sie fauchte ihn an. Er zuckte zurück. Paxe versuchte sich zu erinnern, wann die Bettler aufgetaucht waren. Die meisten davon waren sowieso Betrüger, und Taschendiebe waren sie alle. Sie ging am Hok-Waffenhof vorbei, drehte den Kopf hinüber und lauschte mit halbem Ohr, ob das Kommando (Eins – zwei – drei – vier!) ertönte, aber sie hörte nur die üblichen Grunzer, das dumpfe Klatschen und die schlurfenden Füße. Die Bezirkswachen mit den weiß-blauen Hokabzeichen verbeugten sich vor ihr.
Als sie die Werkstatt in der Tischlerzeile betrat, fand sie Perrit eifrig bei der Arbeit. Er stand über ein Stück Holz geneigt, das in einer Zwinge eingespannt war. Sie kannte ihn gut genug, als daß sie ihn bei der Arbeit hätte stören wollen. Sie lehnte sich an die Wand, gleich neben der Tür, und wartete, bis einer der Lehrlinge sie sah und ihr eiligst einen Hocker brachte. Sie schaute Perrits Händen zu, wie sie mit dem Hohlmeißel hantierten. Es roch nach Hobelspänen und Terpentin im Werkraum. Bretter von allen Größen und Holzarten, in allen Farben lagen überall aufgestapelt.
Perrit legte den Meißel beiseite und nahm das Werkstück aus der Zwinge. »Guten Tag«, sagte Paxe.
Perrit nickte. Er war dunkelhäutig wie sie, weißhaarig und alt, aber seine Schultern waren stark wie das Eichenholz, mit dem er arbeitete. »Ha, Hofmeifterin Pakfe«, sagte er lispelnd. Seine Stimme verschliff die Laute, die er nicht mehr genau sprechen konnte. Die drei oberen Vorderzähne waren ihm im Mund verfault. »Wa' können wir für dich 'un?«
Da die Stadtwachen es gelegentlich mit betrunkenen Matrosen oder betrunkenen Leuten vom Land zu tun bekamen, die eingeschmuggelte scharfe Waffen trugen, trainierte Paxe ihre Männer im Abwehrkampf von Messern. Für dieses Training verwendete sie gekrümmte Klingen aus Weißeiche, die man nijis nannte. Und Perrits Werkstatt lieferte sie an Paxe und noch an zwei weitere Kampfhöfe.
Paxe stemmte die Ellbogen auf die Knie und beugte sich vor. »Ich
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