Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
brauche ein paar Geräte fürs Training.«
Überraschung tanzte über das dunkle Gesicht. »I' da' nich' 'u früh?«
Paxe tastete sich mit äußerster Vorsicht weiter. »Perrit, reicht deine Erinnerung bis in die Zeit vor dem Bann?«
Zwei Jungen marschierten vorbei. Sie trugen Rotzederbretter auf den Schultern. Ihr Haar war mit Sägemehl bestäubt, und ihre Kleider ebenso. Perrit antwortete: »'a' i' 'o. Ich war ein Junge von 'rei'ehn, wie 'ie 'en Bann gemach' haben. Warum?«
»Weil du der einzige Holzschnitzer in der Stadt bist, der mir einfällt, der sich möglicherweise noch erinnert, wie man sejis anfertigt.«
Der alte Mann rieb sich am Stoppelkinn. »E' gibt noch andere«, sagte er. »Brauch' 'u 'eji'?«
Er schien weder schockiert noch überrascht zu sein. Paxe hätte ihn gern gefragt, welcher von seinen Landsleuten die sejis für Dobrin geschnitzt hatte, aber sie wußte, daß er es ihr nicht verraten würde. »Ja, ich brauche welche. Sagen wir, zwanzig Stück.«
Er nickte. »Mach ich 'ir.«
»Fertige sie selber an«, sagte sie. »Und liefere sie auch selbst ab!«
Er grunzte etwas. »Brauch ich 'ich nich' 'afür, mir 'af fu 'agen. Wann willf 'u fie haben?«
»Wie lange wirst du brauchen?«
Er starrte ins Leere, während er es ausrechnete. »In 'rei Wochen.«
»Das reicht gut«, sagte Paxe. »Und du wirst feststellen, daß das Haus Med sich – großmütig zeigen wird.«
Als sie die Werkstatt verließ, zuckte ihr Rücken. Sie durchquerte den Isarabezirk, und ihr Kreuz pochte bei jedem Schritt. Am Tor zum Tanjobezirk blieb sie stehen. Orilys verneigte sich. »Hofmeisterin.«
»Wie steht es?«
»Ruhig wie immer.«
Auf dem makellos sauberen Pflaster störte nichts. Die Akolythen hielten die Steine reingefegt. In einem plötzlichen Impuls streckte Paxe die Hand aus. »Laß mich durch!«
Lächelnd zog Orilys das Eisentor auf.
Es war düster in dem roten Steinbau. Paxe gewöhnte ihre Augen an das Dämmerlicht. Als sie klar sehen konnte, legte sie die Handflächen aneinander und verneigte sich. Der Boden war mit viereckigen blauen und silbernen Fliesen belegt. Die Wände waren schmucklos. Licht fiel durch schmale Luken in der Kuppel herein und schimmerte durch das Silberfiligran der Lampen, die von oben herabhingen. Sie waren an der geschwungenen Kuppeldecke mit langen Ketten an Haken befestigt. Ein leises Gezirpe verriet die Anwesenheit von Vögeln. Paxe trat einen Schritt vor und streifte ihre Sandalen ab. Sie faltete die Arme über ihren Brüsten und hob ihr Gesicht in die Höhe. Sie starrte die weiße Säule im Zentrum des Raumes an. Die Fliesen unter ihren Füßen waren kühl.
Die Steinsäule war unten, über der Basis, vom Schweiß und Fett der zahllosen Hände glattpoliert, die sie berührt hatten. Das Symbol des Wächters, das wußte jedermann, war nichts weiter als eben dies – das Abbild eines Dinges, das es nicht gab. Denn »der Wächter« war kein wirkliches Wesen, sondern nur das Symbol für jene gewaltigere Wirklichkeit, welche die Gelehrten das Chea nannten. Doch hier in dieser bedeutungsschwangeren schweren Stille fiel es leicht zu vergessen, daß der Wächter nur ein Symbol war, daß seine Statue nur ein Stück geglätteter Stein war. Oh, du Wächter, sagten die Menschen der Stadt. Möge der Wächter dir sein Lächeln schenken, riefen sie einander zu. Sie stellten seine Statuen in ihren Wohnungen auf und verneigten sich davor. Einmal, erinnerte sich Paxe, war auch sie hierhergekommen und hatte ihre Kinder beweint. Sie betrachtete den alterslosen, unwandelbaren Alabaster. Es war einfach, darin etwas Wirkliches zu erkennen, eine Wesenheit, stärker als man selbst, weiser als man selbst, nicht Weib und nicht Mann, nicht geboren und nicht sterbend, frei von den Mühen und Wunden, die alles Leben, auch das des Glücklichsten, brandmarken.
Paxe schloß die Augen und murmelte ein kurzes stilles Gebet in das verschwiegene Dunkel hinein: daß durch sie, Paxe, dem Volk der Stadt, die sie liebte, kein Schaden geschehen möge.
Als sie wieder an die Grenze zu ihrem Bezirk gelangte, begann Paxe sich unruhig zu fühlen. Sie hatte Erfahrung genug, um sich nicht offen umzublicken; statt dessen ging sie langsamer, bog in die eine und andere Gasse ein und ging dann den Weg zurück. Leise schob sie sich in einen verschatteten Türeingang und wartete. Kurz darauf erhaschten ihre scharfen Ohren das Klatschen bloßer Füße auf dem Stein. Eine kleine Gestalt mit einem Korb kam durch die Gasse, aus
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