Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
der sie soeben gekommen war.
Sie packte das Kind. »Du bringst sie also deiner Oma, was? Du kleines verlogenes Miststück!« Sie knuffte den Jungen fest genug, daß es wehtun mußte. Der Korb fiel ihm aus den Händen und rollte unbeachtet über die Straße. Er wand sich in ihrem Griff. Paxe schloß die Hand fest um seinen dünnen Arm. »Bleib stehen!« Sie schüttelte ihn. »Du bist hinter mir hergeschlichen!«
Zerlumpt und dunkelhäutig wie zahllose andere Vertreter des Straßenproletariats, starrte das Kind sie an.
»Wie ist dein Name?« fragte sie gebieterisch. »Wo wohnst du?«
Er schüttelte den Kopf, als forderte er sie heraus, ihn noch peinlicher zu befragen.
Paxe runzelte die Stirn. Dann kam ihr plötzlich eine Idee, und sie packte ihn an einem Arm und einem Bein und drehte ihn kopfunter. Er kreischte. Zwei Münzen – eine stumpfe, schwere, eine blitzende – fielen ihm aus der Tasche. Die Bronzemünze hüpfte zweimal hoch und rollte in den Rinnstein. Paxe setzte rasch den Fuß auf die helle geschnittene Bontamünze.
»Die gehören mir!« fauchte der Junge. Sie stellte ihn wieder auf die Beine, und er kroch hin, um die Bronzemünze aufzuheben.
»Sag mir, von wem du sie hast, dann kannst du auch die Bonta wiederhaben«, sagte Paxe. Die Unterlippe des Kindes begann zu zittern. »Es hilft dir nichts, wenn du heulst.«
Die drohenden Tränen versiegten. »Ich weiß seinen Namen nicht«, stammelte der Junge.
»Das glaube ich dir nicht«, sagte Paxe.
»Ich weiß es aber nicht!« Seine Augen beobachteten sie hinterhältig. »Er hat rote Haare, das hab' ich gesehen.«
»Es gibt eine Menge Rothaarige in der Stadt.«
»Er hat drei Brüder, und die haben auch alle rote Haare.«
Grinsend nahm Paxe den Fuß von der Bonta. »Wenn du nicht eine Tracht Prügel haben willst, dann sagst du ihm nicht, daß ich dich erwischt habe«, sagte sie drohend. Sie trat zurück. Blitzschnell wie eine zustoßende Schlange griff der Junge den Dreier vom Pflaster und raste auf eine Gasse zu.
Paxe ließ ihre Runde aus und ging direkt zum Haus der Med zurück. Sie trat an den Kücheneingang. Toli knetete auf einem Brotbrett Teig und sang dabei einen Gassenhauer. Lalith puhlte Garnelen aus, und die durchschimmernden Schalen lagen über die Stufen der Küchentür verstreut.
»Ist Arré in ihrem Arbeitszimmer?« fragte Paxe.
Lalith stellte die Schüssel beiseite und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ja, Hofmeisterin. Soll ich dich anmelden?«
Paxe lächelte dem Mädchen zu. »Nein, laß nur!« Sie ging eilig durch die lange Küche. Im Herd brannte das Feuer, und die Hitze trieb ihr prickelnde Schweißtropfen auf die Wangen.
Arré saß in ihrem Arbeitszimmer in ihrem Sessel. In ihrem Schoß lag ein Blatt Papier; es war rahmfarben und dick wie eine Kalbshaut und mit einem roten Wachsklumpen versiegelt. Auf dem Siegelwachs war das dreieckige Wappen des Hauses Med eingeprägt. »Guten Morgen«, sagte Paxe.
»Guten Morgen«, antwortete Arré.
Paxe ließ sich auf den Schemel nieder. Sie konnte den Blick nicht von dem Brief wenden, der da als gewichtiges Paket auf Arrés Knien lag. Sie vermochte aber die Aufschrift nicht recht zu erkennen. »Was ist das?«
Arré schnippte mit einem Finger gegen das Papier. »Ein Schreiben an den Tanjo. Von mir«, erklärte sie.
Paxe war überrascht. Arré, das wußte sie, hatte wenig Sympathien für den Weißen Clan. »Wegen der Schwerter?« fragte sie.
»Wegen der Schwerter«, bestätigte Arré. »Das Hexenvolk muß wissen, was die Ismeninas tun. Und welche Maßnahmen wir im Rat auch beschließen mögen, wegen dieser Schwerter brauchen wir die Zustimmung des Weißen Clans.«
»An wen sendest du das?« fragte Paxe.
»An Jerrin-no-Dovria i Elath«, sagte Arré und rollte den Namen auf der Zunge.
Jerrin-no-Dovria i Elath war der L'hel – das Oberhaupt – der Kongregation der Hexen in Kendra-im-Delta. Paxe erinnerte sich an ihn von Festtagszeremonien: ein untersetzter Mann mit mächtigen Schultern und kornseidigem Haar. Vor drei Jahren hatte er beim Frühlingsfest präsidiert. In diesem Jahr war Ricky zwölf geworden, und Paxe hatte ihn in den Tanjo gebracht, zur Anerkennungszeremonie. Paxe selbst hatte wie die meisten Menschen, die außerhalb der Stadt aufgewachsen waren, diese Zeremonie niemals selbst miterlebt. Die Hexenleute hatten sie eingeführt, um jenes andere Ritual zu ersetzen, das einst traditionsgemäß den Übertritt von der Kindheit ins Erwachsenenalter gekennzeichnet
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