Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
ich in den Norden komme.«
»Chea! Das habe ich wirklich. Aber macht dich das zu meiner Hüterin?« Sie hockte sich nieder, den Rücken gegen die Wand aus Holz und Ziegeln gelehnt.
Die Kinnbacke war links unten tatsächlich geschwollen. »Bist du in einen Kampf geraten?« fragte Sorren.
»Ja, da war ein bißchen Quatsch auf den Docks gestern nacht«, sagte die Ghya. »Ich kam in den Streit von wem anders rein und kam nicht mehr raus.«
Ein Karren rumpelte auf einer Straße von einem Speicherhaus zu den Docks hinunter. Sorren sagte: »Wenn es dir nicht recht ist, daß ich hierherkomme, dann komme ich nicht mehr. Aber ich muß wissen, wo ich dich finden kann, und wann. Ich kann am Morgen kommen, wenn ich mit dem Einkaufen fertig bin, aber ich kann nicht jeden Tag kommen, oder jemand wird es merken.«
Weitere Wagen rollten dem ersten nach. Geistesabwesend sagte Kadra: »Die müssen ein Schiff entladen.« Sorren rieb sich die Augen. »Du meinst das alles ganz ernst, nicht wahr? Du hast dir alles zurechtgelegt. Woher hast du den Kratzer?«
Eine Sekunde lang wußte Sorren überhaupt nicht, was die Ghya meinte. Dann erinnerte sie sich an die Prellung an der Stirn. »Ach, das ist nichts«, sagte sie. »Nur ein Gerangel.«
»Und? Hast du gesiegt?«
»Ich bin nicht unterlegen.«
»Verstehst du was vom Kämpfen?«
Sorren schüttelte den Kopf. Solche Dinge lernten Dienstboten nicht. »Nein, aber ich bin stark«, sagte sie.
»Stärke allein genügt nicht«, sagte die Ghya. »Kannst du jagen? Kannst du mit einem Speer oder mit einem Messer umgehen?«
Wieder schüttelte Sorren den Kopf.
»Wenn du in den Norden ziehst, mußt du was vom Jagen verstehen«, sagte Kadra, »und du mußt dich selbst schützen können. Das Volk im Galbareth wird dich zwar in Ruhe lassen, aber hinter dem See Aruna wird die Gegend wild. Dort ist nicht gerade das allerfreundlichste Land für einen einsamen Fahrenden.«
»Ich will aber nur wissen, wie ich hinkomme«, sagte Sorren und mühte sich, nicht ungeduldig zu wirken. Es wurde schon allmählich Mittag, und sie wollte nicht, daß Arré ihre Abwesenheit bemerkte, falls sie sie brauchen sollte.
»Es wäre leichter, wenn du eine Landkarte hättest«, sagte Kadra.
Sorren hatte noch nie so etwas gesehen. Sie wußte jedoch, was sie auf einer solchen Karte sehen würde: das Land Arun, ganz kleingemacht, damit es auf ein Stück Pergament paßte. Sie überlegte, ob es ihr möglich sein würde, solch ein Ding zu bekommen.
»Weißt du, wo die Pflaumenstraße liegt?« fragte Kadra.
»Ich kann sie finden«, sagte Sorren.
»Sie ist im Batto-Bezirk. Eine Tante von mir hat dort ein Haus. Manchmal bin ich eine Weile dort. Ich werde dort auf dich warten, nächste Woche, drei Stunden nach Sonnenaufgang.«
»An welchem Tag?«
»Am vierten Tag. Sie geht am vierten Tag in jeder Woche ins Badehaus, morgens, und sie bleibt zwei Stunden lang dort.«
»Wie werde ich das Haus erkennen?«
Kadra sagte: »Frag nur nach mir. Irgendwen.«
Sie eilte den Hang hinauf, als eine Stimme aus einem Türeingang ihr etwas zuzischelte. »Sorren!« Sie blickte sich um, sie war ärgerlich, daß man sie aufhielt. War etwa Jeshim hinter ihr her? Ein Schatten fiel über die Straße. »Sorren!«
Es war Ricard. Er stand unter einem Kavafruchtbaum. Er sah erschöpft und verschreckt und sehr jung aus.
»Ich bitte dich«, sagte er.
Sie ging dahin, wo er sich nicht schreiend mit ihr unterhalten mußte. »Was ...?«
»Sorren, es tut mir so leid«, sagte er mit der Stimme eines ganz kleinen Jungen, zitterig und hoch. Sie fragte sich, ob er das aus Berechnung machte. Seine Kleider waren dreckig, und sein Hemd hatte noch immer den Riß. »Wirklich, es tut mir leid. Ich war so in Trance, daß ich ein bißchen durchgedreht habe. Ich bin jetzt nicht mehr high. Ich hab' keinen Mundvoll Himmelskraut gehabt, seit ich den Wachen ausgerissen bin.«
Es war möglich, daß er die Wahrheit sprach. »Was willst du von mir?« fragte Sorren.
»Ist meine Mutter wütend auf mich?«
»Wahrscheinlich«, antwortete Sorren. »Wir haben nicht über dich gesprochen.«
»Bist du in Ordnung?« Er starrte ängstlich auf die Prellung an ihrer Stirn.
»Du hast mich nicht verletzen können«, sagte sie. »Ricky, ich geh jetzt zum Haus zurück. Wenn du mit mir reden willst, dann komm mit!«
»Ich trau mich nicht heim«, sagte er.
Die Antwort war das ehrlichste Wort, das sie je von ihm gehört hatte. »Das wirst du wohl früher oder später doch
Weitere Kostenlose Bücher