Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
»Alles Muskeln, junge Lady!«
»Hah!« Sie versuchte an ihm vorbei auf den Hof zu schauen.
»Sie ist nicht da drin.«
»Und du weißt, wo sie ist?«
»Ich glaube, sie hat heute ihre Runde ganz früh gemacht ...« Er zupfte an seinem Schnurrbart. »Ich glaube, sie ist zum Tor gegangen, um ihrem Sohn Fahrwohl zu sagen.«
Also ging Ricard wirklich fort. »Ich danke dir«, sagte Sorren. Sie beugte sich vor und küßte Borti auf die Wange. »Du bist eigentlich ein netter Mann, weißt du?«
Sie ließ ihn stehen, und er starrte ihr nach, als hätte sie sich vor seinen Augen in einen Fisch verwandelt. Sie ging durch die Küche, am Wohnzimmer vorbei. Elith holte sie am Fuß der Treppe ein. Ihr Atem stank nach Knoblauch. Im großen Salon sei ein Fensterparavent zerrissen, sagte sie, und die Lampen brauchten frisches Öl.
»Ich habe vor drei Tagen schon Choba bestellt«, sagte Sorren. Das lahme Genuschel der alten Frau ließ sie die Geduld verlieren. »Sag Toli, er soll es dir aus dem Vorratsraum holen.«
Sie zog sich frische Sachen an und klopfte dann gegen Arrés Tür. »Komm herein!« sagte Arré. Sorren glitt ins Zimmer. Arré saß auf der Bettkante und streifte sich gerade die Armbänder über. »Ah! Laß dich mal anschauen. Dreh dich! Du siehst sehr hübsch aus, Kind.«
»Ich danke dir«, sagte Sorren. Dann blickte sie sich im Zimmer um. »Kann ich hier etwas für dich tun?«
Arré gluckste. »Ach, ich will dich nicht aufhalten. Hast du Paxe heut morgen schon gesehen?«
»Sie ist zum Tor, um Ricky zu verabschieden.«
»Ah. Sehr gut. Also, Kind, zieh los!« Sie machte scheuchende Bewegungen mit beiden Händen. Gewohnheitsmäßig zupfte Sorren an der Überdecke, als sie am Bett vorbeikam. Sie wollte etwas sagen – etwas tun – sie wußte aber nicht, was. Ihre Gefühle waren völlig durcheinander.
Sie trat aus der Haustür, und im gleichen Augenblick kam ein Junge in der Kleidung der Tempelzöglinge durch das Hoftor. Er benahm sich sehr wichtigtuerisch. »Ich habe eine Botschaft für die Lady Arré Med zu überbringen«, verkündete er Sorren und dem Vorderhof. »Von Jerrin-no-Dovria i Elath.« Sorrens Puls raste, wie es stets geschah, wenn der Weiße Clan vor ihr genannt wurde.
»Im Haus«, sagte sie und trat vom Weg, um ihn eintreten zu lassen. Er stolzierte an ihr vorbei, ohne sich zu bedanken, wie wenn ihm Ehrerbietung wie selbstverständlich gebühre. Er brachte die Antwort auf den Brief, den zu überbringen sie sich geweigert hatte.
Die Hokposten schienen sie bereits erwartet zu haben.
Sie hatte das Schreiben mit ihrem Namen darauf mitgebracht, um es ihnen vorzuweisen, doch sie brauchten es gar nicht zu sehen, sie winkten sie einfach den Pfad hinauf, sobald sie ihren Namen gesagt hatte. Sie hatte sich Sandalen übergestreift, und sie klapperten auf den Platten, als sie auf die Haustür zuschritt. Das Hokhaus war enorm groß, viel größer als das der Med. Es war mit Silberzedernholz gebaut und hatte die Form eines U, in dessen Mitte ein geräumiger Garten angelegt war. Trompetenblumen wuchsen an Spalieren hoch und schaukelten von dem Spitzdach.
Die Angehörigen der Familie Hok lebten alle beisammen. Ein Mädchen in einem weißen Kleid führte Sorren in einen blaugekachelten Waschraum, damit sie sich dort den Staub von Gesicht und Händen waschen könne, und brachte sie dann zu dem Alkoven, wo sie ihre Sandalen ablegen konnte. In dem kleinen Raum stapelten sich mindestens ein Dutzend Sandalen- und Schuhpaare.
Marti Hoks Zimmer war geräumig und hell und hatte Fenster ringsum, um die Sonne einzulassen. Marti saß mitten im Raum in einem großen hölzernen Sessel. Die Armlehnen des Sessels waren wie Schlangenköpfe geschnitzt.
»Komm herein, mein Kind!« sagte die alte Frau. »Laß dich anschauen!« Sorren gehorchte. Sie war froh, daß sie sich frische Kleidung angezogen hatte. »Du siehst bezaubernd aus. Setz dich!« Sorren klappte die Beine unter sich zusammen und saß auf dem Fußboden. Die Matten waren aus leuchtendgoldenem Stroh geflochten, und sie waren sehr weich und dufteten süß. Ein Kind kam hereingelaufen, dann ein zweites. »Meine Enkel«, sagte Marti Hok voll Stolz. Vom Flur her dröhnten Stimmen; ein drittes Kind stolperte herein. Sorren fragte sich, wie viele Enkelkinder Marti haben mochte – sechs, zehn, dutzendweise?
Die Kleinen kamen ohne Unterlaß hereingetrapst und zeigten ihrer Großmutter lebendige Frösche, tote Wassermolche, aufgeschürfte Knie, brachten Zänkereien vor
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