Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
sie, suchten Trost in Unsicherheiten, zeigten geheimniskrämerisch ihre unbezahlbaren Schätze. Martis Kinder – erwachsene Kinder – lugten durch die Tür, fragten beiläufig etwas, sagten zu den kleinen Kindern: »Ärgert eure Großmutter nicht!«
Jedesmal, wenn eines der Hokkinder eintrat, ließ sich Sorren in Achtung vor dem Brauch auf ein Knie nieder. Dann brachte eine Dienerin Schalen mit Sorbet für Marti und ihren Gast. Sorren stand auf, um beide Schalen entgegenzunehmen.
»Setz dich!« befahl Marti Hok. »Und hör auf, dauernd auf- und abzuhopsen, jedesmal wenn eine meiner Töchter hereinkommt. Du bist mein Gast, du bist hier schlicht und einfach Sorren, und ich bin Marti. Komm vom Boden weg und nimm dir ein Kissen! Ich freue mich, daß du kommen konntest.«
Sorren grinste. »Ich sitze gern auf dem Boden«, sagte sie. Sie ließ sich von der Dienerin die Schale reichen.
»Dann sollst du auch dort sitzen. Möchtest du Tee, Wein oder Wasser?«
»Ich würde gern einen Schluck Wein trinken«, sagte Sorren. »Danke, Her ... Marti.«
Marti Hok befahl der Dienerin, ein Glas Wein zu bringen. Sorren löffelte sich das Halbgefrorene in den Mund. Es schmeckte nach Himbeeren, und das Aroma stieß an ihre Zunge wie eine zerspringende Blase. »Das schmeckt gut«, sagte sie.
»Es ist gut«, sagte Marti. »Wie findest du mein Haus?«
Sorren blickte sich um. Es roch wundervoll in diesem Raum; in hohen Vasen standen Blumen in sämtlichen Ecken. Die Kissen waren aus Seide und mit Gänsedaunen gefüllt. In einem Rohrkäfig, der von einer hohen Holzstange hing, sang eine glückbringende Grille. »Mir gefällt es.« Vorsichtig, weil sie an die Länge ihrer Beine dachte, streckte sie sich im Sonnenlicht aus.
Ein junges Mädchen mit langem schwarzen Haar kam in das Zimmer geschossen. »Abu, schau mal!« Das Kind hielt die gehöhlten Hände empor. Marti beugte sich darüber.
»Bemerkenswert«, sagte die alte Frau mit viel Überzeugung. »Wo hat sie das gefunden?«
»Im Garten.«
»Fein. Trag ihn wieder hinaus und laß ihn frei. Er braucht Licht und Luft.«
»Ich will ihn aber behalten!« quengelte das Kind. Es öffnete die Hände so weit, daß Sorren einen riesigen flaumigen orangefarbenen Schmetterling sehen konnte, der sich an die Handflächen klammerte.
»Sie kann ihn nicht behalten, er stirbt sonst. Laß ihn fliegen, chelito!«
Das Mädchen zog eine Schnute. Marti fächelte über die Flügel des Falters. »Sieh doch, chelito! Er wächst doch noch, und er möchte frei sein.« Die orangenen Flügel zitterten, mühten sich, sich zu strecken. »Laß ihn fliegen! Er kann nicht wie eine Grille in einem Käfig leben.«
Das Kind seufzte: »Und ich möchte ihn so gern behalten.«
»Es gibt Geschöpfe, die du nicht festhalten kannst.«
Das Mädchen ging aus dem Zimmer, die Augen fest auf den trocknenden Schmetterling geheftet. Im Nebenzimmer begann jemand zu singen: »Still-husch-husch, schlafe, mein Kindchen, schlafe nun ein, süß sollst du träumen, wohl soll dir sein. Schlaf in Frieden und voll Lust, hier an deiner Mutter Brust, Still, mein Kind, nun schlafe ein ...« Das Lied brach ab.
Marti lächelte. »Meine Jüngste, Alanna. Sie ist schwanger.«
»Wie viele hast du?« fragte Sorren.
»Enkelkinder? Kinder? Drei Söhne und vier Töchter. Und nur der Wächter weiß, wie viele Enkeltöchter und Enkelsöhne; ich kann einfach den Überblick nicht mehr behalten. Im Hause von Arré ist das anders, wie?«
»Ach nein«, sagte sie und löffelte die Reste ihres Sorbets aus der Schale, das zu einer cremigen roten Pfütze zerschmolzene Halbgefrorene auf dem Boden des Gefäßes. »Es ist natürlich viel ruhiger.«
»Zu ruhig«, sagte Marti Hok. »Arré brennt zu schwach, sie ist wie ein einsamer Kohlenbrocken auf einem Rost. Sie braucht mehr Menschen um sich herum. Sie braucht eine Liebe.«
»Arré?« fragte Sorren ungläubig. Sie stellte die Schale neben sich ab. Sie konnte sich Arré einfach nicht mit einem oder einer Geliebten vorstellen.
»Du glaubst, sie ist zu alt dafür?« fragte Marti mit amüsiertem Ton. Ihr Gesicht überzog sich mit unzähligen Lachfältchen. »Warte, bis du selber vierzig bist, dann verstehst du es besser.«
»Nein«, protestierte Sorren. »Ich weiß, daß ...« Schließlich war Paxe ja auch fast vierzig. Doch Paxe war eben Paxe.
»Außerdem hätte sie Kinder haben sollen«, fuhr Marti fort. »Aber schließlich hat sie ja doch dich.« Sie griff nach ihrem Gehstock und stand auf. Sorren
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